Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
in einer multikulturellen Demokratie als schutzbedürftig gelten soll und welche Mittel dabei gewählt werden dürfen. Modoods frühe Überlegungen laufen darauf hinaus, dass nicht nur religiöse Überzeugungen vor Zensur und Zwangssäkularismus, sondern auch religiöse Gefühle vor Verletzungen und Kränkungen geschützt werden sollen, und zwar durch Zensur oder andere Zwangsmaßnahmen. Da nur die Betroffenen selbst das Ausmaß ihrer Gekränktheit bestimmen können, hat diese Forderung den Nachteil, dass sie unscharf bleibt und weitreichende Normen aus nicht weiter analysierten Unrechtsgefühlen ableitet. Ich beeile mich hinzuzufügen, dass Modood diese unhaltbare Überlegung inzwischen verfeinert hat. So spricht er heute nur noch davon, dass die Gefühle derer, die sich von bestimmten Texten und Bildern verletzt fühlen, lediglich eines von mehreren Kriterien sind, um festzustellen, ob Aufstachelung zum Rassenhass oder Volksverletzung vorliegt. Außerdem unterscheidet er sorgfältig zwischen der Fähigkeit einer Gesellschaft, bestimmte künstlerische oder publizistische Produkte als rassistisch zu verurteilen ( censure ) und der staatlichen Notwendigkeit, diese zu zensieren ( censor ) (vgl. Modood 2013).
Ein Strang in dieser Debatte dreht sich um die Frage, welche rechtsschöpferische Rolle Verletzungsgefühle überhaupt spielen sollen. Zwar gibt es auch in modernen Rechtsstaaten zum Beispiel Persönlichkeitsrechte, die auf die Schonung der Gefühle potenziell Betroffener hinauslaufen, aber der Sinn von Gesetzen gegen Hassrede und Volksverhetzung ist möglicherweise ein anderer. So macht der britische Rechtstheoretiker Jeremy Waldron (2012) deutlich, dass sich die Schutzfunktion von Gesetzen gegen hate speech , die er ausdrücklich befürwortet, auf die »Würde« von Personen bezieht, die wiederum etwas zu tun hat mit dem elementaren Status einer Person als Mitglied der Gesellschaft. Rassistische, sexistische oder homophobe Äußerungen, die bestimmten Personen diesen Status als gleichberechtigte Mitmenschen absprechen, sie für vogelfrei oder minderwertig erklären, lösen bei den Betroffenen zwar typischerweise Entsetzen, Angst und Hilflosigkeit aus. Waldrons Argument ist jedoch, dass die Verhinderung solcher Gefühle nur ein Nebenprodukt von Gesetzen gegen Volksverhetzung ist, nicht ihr eigentlicher Zweck. Auch in einer Gesellschaft von Stoikern, an deren Nervenkostümenjede Hassrede folgenlos abperlt, wäre es sinnvoll, solche Gesetze zu haben. Ihre Aufgabe besteht nämlich darin, die menschliche Gesellschaft als solche zu schützen, unabhängig von den Gefühlen der Einzelnen. Ebenso wie eine Gesellschaft von beleidigungsresistenten Stoikern kann man sich eine Gesellschaft vorstellen, in der niemand die grundlegende Würde seines Nachbarn bestreitet, auch wenn er dessen religiöse Überzeugungen oder Praktiken für falsch, albern oder rückständig hält und daraus keinen Hehl macht.
Die Idee einer solchen Gesellschaft liegt dem britischen Racial and Religious Hatred Act von 2006 zugrunde, der die Anstachelung von Hass gegen religiös definierte Gruppen unter Strafe stellt, gleichzeitig aber »Bekundungen von Antipathie, Missfallen, Spott, Beleidigung oder Beschimpfung gegenüber einzelnen Religionen« ausdrücklich schützt (zit. ebd.: 125). Das Gesetz unterscheidet die Rede über Personen von der Rede über Ideen und Glaubensinhalte, ohne auszuschließen, dass sich das hasserfüllte Reden gegen eine Religion in verschlüsselter Form direkt gegen deren Anhänger richten kann. Ob dies der Fall ist, hängt jedoch nicht von den Gefühlen der Hörer ab, sondern von Inhalt, Form, Ton, Kontext und Intention der jeweiligen Botschaft selbst.
4. Schließlich kehrt bei Modood das Problem der Dissidenz innerhalb von marginalisierten Gruppen wieder, das in der gesamten Geschichte des Multikulturalismus eine zentrale Rolle spielt. Modood vertritt einen starken Multikulturalismus, der die ungerechten Verhältnisse zwischen Gruppen in den Mittelpunkt rückt und keine Aussagen macht über die Konformitätszwänge innerhalb dieser Gruppen. Seine Argumente in der Rushdie-Affäre münden in der Forderung, dass die unterstellten religiösen Gefühle von Muslimen (und anderen Minderheiten) vor der Kränkung auch durch literarische Provokationen bewahrt werden sollen. Dabei interessiert er sich auffallend wenig für den Umstand, dass es in der Rushdie-Affäre um einen Konflikt zwischen dem imaginierten Kollektiv der Muslime
Weitere Kostenlose Bücher