Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Fassbinder gerade auch bei Nichtjuden Irritationen dadurch hervorrief, dass er die philosemitischen Stereotype und Wiedergutmachungsphantasien angriff, die im Nachkriegsdeutschland wie ein moralisches Schlafmittel wirkten und die wenigen realen Juden unsichtbar machten. Während liberale Kommentatoren den Auslieferungsstopp aufheben wollten und Fassbinder wie jedem anderen Künstler das Recht auf das Schreiben von Texten zubilligten, die »kunstvoll verletzen«, bestanden konservative Kommentatoren auf »Takt und Schonung für die Opfer« (zit. ebd: 81f.) als Argument gegen die Kunstfreiheit.
Fassbinder selbst, der schon 1982 starb, reagierte auf die Vorwürfe gegen ihn und seinen Text mit dem Vorwurf der »Zensur« und eines »neuen Faschismus« in Deutschland. Nach seinem Tod wurde die Konfliktachse jedoch neu definiert. Der Gegenpol zur »Freiheit der Kunst« waren nun nicht mehr der verdruckste Philosemitismus und die Zwangsvorstellungen einer deutsch-jüdischen Symbiose, sondern der »Schutz von Minderheiten« (ebd.: 106), die sich nun selbst zu Wort meldeten. Diese polaren Begriffe bestimmten die letzte und heißeste Phase des Konflikts, in der es um die Aufführung des Stücks im Schauspiel Frankfurt ging. Erst in dieser Phase nahm die jüdische Minderheit, vor allem in Gestalt der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, die Sache selbst in die Hand und verhinderte im Herbst 1985 die Uraufführungdurch Demonstrationen und schließlich eine Bühnenbesetzung. Die Parolen reichten von »Es lebe das Volk Israel« (auf Hebräisch) bis »Frankfurter: Boykottiert das antisemitische Müll-Stück« (vgl. die Fotos ebd.: 113, 115).
Lohnend wäre ein systematischer Vergleich zwischen Konflikten, in denen Juden oder Muslime aus dem Gefühl heraus, missachtet zu werden, gegen bestimmte Publikationen oder Kunstwerke Sturm gelaufen sind. Dies kann hier nicht geleistet werden. Mir scheint allerdings, dass die offenkundigen Unterschiede im Auftreten dieser beiden exemplarischen Gruppen oft überbetont werden. Anders als Geistliche im Iran während der Rushdie-Affäre rief kein Chefrabbiner dazu auf, Fassbinder oder seine Verleger umzubringen. Aber wie im Fall Rushdie gab es auch in Deutschland zahlreiche Versuche, die Verbreitung und Aufführung von Fassbinders Text auf dem Rechtsweg verbieten zu lassen. Auch in Deutschland hat sich nach anfänglichem Zögern die in dem Theaterstück namentlich angesprochene Minderheit selbst zu Wort gemeldet und energisch protestiert. Das Wichtigste ist jedoch, dass im Rückblick die Bühnenbesetzung in Frankfurt als das »Coming-out« (ebd.: 112) der Juden in der Bundesrepublik gewertet wird. Erst jetzt wurden Juden als selbstbewusste Mitbürger wieder sichtbar. Während die Rushdie-Affäre, der ich mich als Nächstes zuwende, zum Anlass wurde, ein kondensiertes Bild des »britischen Muslims« zu entwerfen, war es bei den deutschen Juden anders herum. Die Fassbinder-Affäre erlaubte es ihnen, endlich hinter den medialen Schemen hervorzutreten und als reale Personen im Sichtfeld der übrigen Deutschen zu erscheinen.
Rushdie und die Muslime
Rushdies Roman erschien Ende 1988 und löste eine Protestwelle zunächst nur unter britischen Muslimen aus. Der satirische Text spielt mit Namen und Bedeutungen aus der Zeit des Propheten Mohammed, enthält allerlei sexuelle Anspielungen und erkundet das Verhältnis von Offenbarung und Vorstellungskraft in einer Weise, die auf gläubige Muslime provokativ wirken kann. Zahlreiche Muslime warfen daher dem Autor Blasphemie vor. Wie hinlänglich bekannt, entwickelten sich die Proteste schnell zu einer weltweiten Unruhe, nachdem das geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Khomeini, eine Fatwa aussprach, die Muslime überall auf der Welt aufforderte, Rushdie zu töten. Die sich daran anschließenden Vorkommnisse, zu denen eine öffentliche Bücherverbrennung im englischen Bradford sowie Anschläge und Tote in verschiedenen Teilen der Welt gehörten, verwandelten den Text des Romans rasch in ein globales Ereignis , das die besiegelte Geschichte des ideologischen Ost-West-Konflikts von der nunmehr anbrechenden neuen Geschichte eines kulturellen Konflikts zwischen dem »Westen« und dem »Islam« trennt (vgl. Falkenhayner 2014). In diesem neuen Konflikt erlangt auf westlicher Seite die Redefreiheit den Rang eines heiligen Werts, der in direkte Opposition gebracht wird zu den dunklen Mächten einer unreformierten fremden Religion.
In fortgeschrittenen multikulturellen
Weitere Kostenlose Bücher