Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
betrachtet wird, was die herausgehobene Stellung angeht, die Mohammed zugeschrieben wird« (ebd.: 154). Ohne hier tiefer einsteigen zu können, scheint mir Modood an dieser Stelle selbst ein Argument dafür zu liefern, dass der Prophet nicht bei allen Muslimen dieselbe Stellung innehat und Muslime ihre Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Folgen konstruieren. In einer viel gründlicheren Untersuchung hat Nikola Tietze (2012) für Muslime in Deutschland und Frankreich gezeigt, dass ihr Gruppen- und Zugehörigkeitsbewusstsein ebenfalls alles andere als widerspruchsfrei und deutlich konturiert ist. Die Behauptung Modoods aus den frühen 1990er Jahren, dass es der homogene Bezug auf Glaubenssätze über den Propheten sei, durch den das Kollektiv der Muslime sich selbst definiere und Gestalt annehme, scheint mir daher sehr zweifelhaft zu sein. 38
2. Mein zweiter Einwand bezieht sich auf die Holocaust- und Sklavereivergleiche. Ich akzeptiere für einen Augenblick, dass theologische Behauptungen über heilige Schriften und Religionsstifter und empirische Aussagen über historische Ereignisse möglicherweise dieselbe Wirkung auf die kollektive Identität von Gläubigen oder Nachkommen von Opfern haben können. Allerdings sind die Leugnung oder Rechtfertigung von Holocaust undSklaverei in westlichen Gesellschaften heute nicht nur deswegen geächtet, weil die Angehörigen dieser Gruppen sich besonders verletzt fühlen, sondern auch, weil sich nichtjüdische Deutsche oder andere Europäer mit dem historischen Leid von Juden identifizieren, ebenso wie sich nichtschwarze Amerikaner mit dem historischen Leid der verschleppten afrikanischen Sklaven identifizieren. Diese Identifikationen sind möglich, weil Nachkommen und Zeugen massenpsychologisch wirksame Narrative entwickelt haben, durch die das historische Trauma der Opfer in ein kommunizierbares, sozial ansteckendes »kulturelles« Trauma verwandelt worden ist (Alexander et al. 2004; Heins 2012b). Ein Beleg dafür ist die erwähnte Tatsache, dass die früheste Kritik an Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod von nichtjüdischen Deutschen formuliert wurde.
Meine These ist nun, dass der voraussetzungsreiche Prozess der Konstruktion moralischer Universalien für religiöse Gruppen außerordentlich schwer ist, weil man bereits gläubig sein muss, um zum Beispiel den Skandal der Kreuzigung von »Gottes Sohn« überhaupt als einen solchen zu verstehen. Für Nicht- oder Andersgläubige handelt es sich bei der Marterung von Jesus lediglich um eine einzelne Menschenrechtsverletzung oder den Tod eines abtrünnigen jüdischen Märtyrers. Selbst wenn es zutrifft, dass für Muslime die Beleidigung des Propheten Mohammed ebenso unerträglich ist wie die Leugnung des Holocaust oder die Rechtfertigung der Sklaverei für Juden und Afro-Amerikaner, ist nicht klar, was daraus für den Rest der Gesellschaft folgen soll, solange diese andersgläubig oder nichtgläubig ist. Gewiss verdienen Muslime dieselbe Achtung wie alle anderen Bürger auch, aber es ist nicht klar, was die Forderung bedeutet, diese Achtung auf die Inhalte ihres Glaubens auszudehnen. Für Andersgläubige und erst recht für Nichtgläubige ist der Glaube zum Beispiel an die Seelenwanderung über Artengrenzen hinweg oder an das Paradox einer jungfräulichen Mutter, die einen göttlichen Sohn geboren haben soll, aberwitzig. Das bedeutet nicht, dass es keine Grenzen des guten Geschmacks im Umgang mit den Glaubensinhalten anderer gibt; und es bedeutet selbstverständlich erst recht nicht, dass Hindus und Katholiken als Personen mit weniger Respekt als alle anderen behandelt werden dürfen. Es bedeutet allerdings, dass die Grenzen der Überzeugungskraft religiöser Gruppen auch die Grenzen sind, innerhalb derer sie legitimerweise Achtung und Wertschätzung für die Inhalte ihres Glaubens erwarten können. In säkularen Verfassungsstaaten dürfen Muslime ebenso wie Christen, Hindus, Sikhs oder Buddhisten ihre Überzeugungen ausdrücken und zur Grundlage ihrer Lebensgestaltung machen, allerdings nurum den Preis, dass sie die Einschränkung der »praktischen Wirksamkeit« (Habermas 2005b: 268) der eigenen Überzeugungen akzeptieren. Das heißt, dass die Achtung, die jeweils bestimmten Göttern, Heiligen oder Propheten entgegengebracht wird, kein Grund ist, diese per Gesetz der verbrieften Redefreiheit zu entziehen.
3. Eine weitere wichtige Frage ist, was genau
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