Der Sklave von Midkemia
versuchten, würden es die Leichen der Acoma sein, die sich am Fuß der Barrikaden auftürmten. Keyoke rief sich ins Gedächtnis, was er von seinem Gegner wußte: Irrilandi war keinesfalls dumm – er war fähig genug, um seit beinahe zwei Jahrzehnten der Kommandeur der Minwanabi zu sein –, und er gehorchte bei diesem Überfall sicherlich den Befehlen Tasaios. Warum sollten zwei so kampferfahrene Männer Hunderte ihrer Soldaten opfern? Der Verlust der Seide würde den Acoma niemals einen vernichtenden Schlag versetzen, und die Sache war ganz sicher nicht die vielen Krieger wert, die gefallen sein würden, noch ehe die Sonne den Zenit erreicht hatte. Also mußte die Zeit eine entscheidende Rolle spielen – aber warum?
Beunruhigt wandte Keyoke sich von diesen unbeantwortbaren Fragen ab und wählte die Soldaten für die nächste Ablösung aus. Bevor die Krieger ihre Position hinter der Barrikade einnahmen, inspizierte Keyoke ihre Rüstungen und Waffen und legte jedem kurz die Hand auf die Schulter. Er sprach ihnen mit ruhigen Worten Mut zu, dann schickte er sie nach vorn. Dort warteten sie, bis ein müder Kamerad zurücktrat, und nahmen dessen Platz ein, ohne daß der Wechsel länger als einen kurzen Augenblick gedauert hätte.
Keyoke betrachtete die blutbespritzten Soldaten, die ihre Helme ablegten und sich die verschwitzten und verdreckten Haare und Gesichter im Bach wuschen. Er beschloß, sie öfter austauschen zu lassen. Die Minwanabi konnten immer noch nur vier Männer auf einmal gegen die Barrikade schicken, und die Speerwerfer hatten erst einmal jeden Versuch zunichte gemacht, die Befestigung aus Zweigen und Felsbrocken auseinanderzureißen. Es war besser, sie nicht bis zur Erschöpfung einzusetzen, entschied er.
Plötzlich erklang ein Schrei hinter der Linie der Minwanabi. Keyoke wußte nicht, was das bedeuten mochte, daher forderte er alle seine Männer auf, sich bereitzuhalten. Befehlshaber Dakhati eilte an die Seite seines Kommandeurs, seine Schwertspitze wies in Richtung der Barrikade. Doch es kam kein neuer Angriff. Statt die Schlucht mit weiteren Soldaten zu verstopfen, zogen die Minwanabi sich überraschend zurück.
Dakhati atmete tief aus. »Vielleicht sind sie es leid, ihre Männer für nichts sterben zu sehen.«
Keyoke zuckte mit den Schultern und enthielt sich eines Kommentars. Rückzug war nicht Irrilandis Stil und ganz sicher auch nicht der von Tasaio. »Vielleicht«, meinte er dann. »Doch unsere Feinde hatten bisher kein Problem, so viele Menschenleben zu verschwenden.«
Dakhati wollte gerade etwas erwidern, als ein Gegenstand von oben in die Schlucht geworfen wurde und ihn zum Schweigen brachte. Ein Bündel aus Lumpen flog durch die Luft, prallte auf den harten Boden und rollte etwas zur Seite. Die in der Nähe stehenden Diener stoben jäh auseinander, möglicherweise war es ja ein Nest mit stechenden Insekten – ein alter Belagerungstrick – oder etwas ähnlich Unangenehmes. Keyoke gab Dakhati ein Zeichen, und der Befehlshaber ging hin, um es zu untersuchen. Er hob das Bündel hoch und begann es auszuwickeln. Als er die letzte Stoffschicht entfernt hatte, preßte er die Lippen fest zusammen, und sein Gesicht wurde fahl unter der Sonnenbräune.
Als Dakhati wieder aufsah, nickte Keyoke kaum wahrnehmbar, woraufhin der Befehlshaber die Lumpen wieder zusammenwickelte. »Es ist Wiallos Kopf«, murmelte er leise.
»Das dachte ich mir.« Keyokes Stimme war nicht anzumerken, daß er die gleiche Hoffnungslosigkeit, die gleiche hilflose Wut empfand. Mara, dachte er, Ihr und Ayaki seid in großer Gefahr, und ich kann nichts tun, um Euch zu helfen.
Auch Dakhati war sich der Bedrohung der Acoma bewußt. »Sie haben ein Stück Seil dazugelegt, damit wir wissen, daß sie ihn gehängt haben, bevor sie ihm den Kopf abtrennten.« Mit Mühe gelang es Keyoke, bei der Erwähnung des ehrlosen Todes nicht zusammenzufahren. »Zweifellos erzählte Wiallo ihnen, daß er desertiert sei. Er mag zwar gehängt worden sein, doch er starb mutig. Ich selbst werde das vor dem Roten Gott bezeugen.«
Dakhati nickte grimmig. »Eure Befehle, Kommandeur?« Keyoke antwortete nicht sofort. Das Schicksal des Boten, den er zu Mara senden wollte, quälte ihn maßlos. Die Schlucht war unwiderruflich abgeriegelt, niemand würde entkommen und Mara vor dem unbemerkten Spion in ihrem Haus warnen können. Fast hätte er seine Bitterkeit verraten, als er antwortete: »Bereit zu sein, so viele Minwanabi wie möglich zu töten. Und
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