Der Skorpion von Ipet-Isut
Himmel.
„Das ist alles, was du dazu sagst?“ entfuhr es Debora. „Willst du nichts unternehmen, um Amenemhat zu retten?!“
„Das Schicksal eines Frevlers liegt in den Händen der Götter. – Und nun lass mich meiner Wege gehen!“ Er schob Debora brüsk zur Seite.
Sie starrte ihm nach, nicht wissend, ob sie vor Wut schreien oder vor Verzweiflung weinen sollte. Wenn Amenemhat starb, war die Reihe, das höchste Amt zu bekleiden, an jenem Greis, der die Abzeichen des Zweiten Gottesdieners trug! War das der Grund, dass er nichts tun wollte? Oder hatte er ganz einfach Angst?
Debora richtete ein verzweifeltes Stoßgebet an die Götter ihrer Heimat und sämtliche anderen, die ihr im Augenblick einfielen. Sie konnten, sie durften nicht so grausam sein und ihr Amenemhat nehmen! Nicht jetzt! Nicht nach diesen wenigen Wochen! Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter, versuchte nachzudenken. Wenn ihr der Zweite Gottesdiener nicht helfen konnte oder wollte – wer dann? Menkheperre! Er hatte es nie an Loyalität zu seinem Hohepriester fehlen lassen, jedenfalls nach Amenemhats Ansicht, und diesbezüglich konnte Debora nur vertrauen.
Sie hielt einen der mit Säuberungsaufgaben im Hof beschäftigten Tempeldiener an und fragte nach dem Vierten Diener Amuns. Menkheperre sei gleich nach dem morgendlichen Ritual zu seiner Familie geeilt, erhielt sie zur Antwort.
Gar nicht schnell genug konnte sie den Weg hinter sich bringen. Sie war außer Atem, als sie endlich an die Tür des kleinen Hauses hinter den Mauern von Ipet-Isut hämmerte. Ein Mädchen öffnete ihr, lugte furchtsam durch den Türspalt nach draußen. Dann schob sich noch der Kopf eines kleinen Jungen heraus. Aber ehe Debora etwas sagen konnte, tauchte Menkheperre selbst auf.
„Du? Warum kommst du zu mir?“
Von drinnen klang Babygeschrei und die besorgte Stimme einer Frau. Die Ereignisse hatten die gesamte Familie wie ein Schock getroffen. In den schreckgeweiteten Augen von Menkheperres Frau fand Debora ihre eigene Angst wieder – und verlor gleichzeitig einen Gutteil ihrer Hoffnung auf Unterstützung, noch bevor sie sie überhaupt erbeten hatte.
„Erhabener! Wir müssen Amenemhat helfen!“
„Die Zeichen hierfür stehen nicht besonders gut“, antwortete er, trotz der deutlichen Gestik seiner Frau, Debora lieber vor die Tür zu setzen und kein weiteres Wort mehr in dieser Angelegenheit zu verlieren. „Ein Freund aus dem Palast hat mir berichtet, Ramses hat seine Mutter unter Bewachung stellen lassen und auch eine Anzahl Diener ins Verlies werfen lassen, um sie zu befragen.“
Debora spürte einen Kloß im Hals. Befragen. Das bedeutete Folter! Würde der Pharao auch Amenemhat foltern lassen? In ihrer Erinnerung brannte plötzlich das Bild zweier Bettler, die eines Tages auf den Hof ihres Vaters gekommen waren; der eine mit abgeschnittener Nase, der andere mit abgeschlagener rechter Hand...
„Wir... müssen etwas tun! Bitte! Du kannst das doch nicht einfach zulassen! Menkheperre!“
Der Priester senkte den Kopf. Die Sorge, die das Mädchen vor ihm an den Tag legte, ließ ihn zum ersten Mal tatsächlich der Wahl vertrauen, die Amenemhat mit ihr getroffen hatte. Sie schien ihn wirklich zu lieben. Aber – helfen konnte er ihr trotz allem nicht. „Wenn es etwas gäbe, was wir tun könnten!“
Debora konnte es nicht länger aushalten. Schluchzend rannte sie hinaus, hielt erst inne, als sie in Amenemhats Haus stand. Was sollte sie nur tun? Doch nicht einfach hier bleiben und warten? Warten, dass die Nachricht von seiner Hinrichtung sie erreichte?! Einer der Diener huschte vorüber, ohne sie anzublicken. Es war geradezu, als ob sie die Todesnachricht des Hausherrn bereits mitgebracht hatte! Sie ging hinüber in den Hauptraum des Hauses, setzte sich auf eine der Bänke und starrte in die Stille. Es war so leer hier – ganz anders als in den Stunden, in denen Amenemhat ganz einfach nicht hier gewesen war, weil er seine Pflichten im Tempel zu erfüllen gehabt hatte!
Debora legte die Hände auf ihren Bauch. An diesem Abend hatte sie Amenemhat erzählen wollen, dass sie glaubte, neues Leben in sich zu tragen. Und jetzt… würde er vielleicht nie mehr zurück kommen, sie würde es ihm nie sagen können…
Debora saß allein auf diesem Platz bis zum Abend. Keiner der Bediensteten wagte sich zu zeigen. Hatten sie es vielleicht sogar schon vorgezogen, sich davon zu stehlen, um möglichen Repressalien aus dem Weg zu gehen? Es war Debora absolut
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