Der Skorpion von Ipet-Isut
beruhigen, sich abzulenken. Alles ohne Erfolg. Dann hatte sie einen Spaziergang über den Hof unternommen und war dabei buchstäblich mit Menkheperre zusammen gestoßen. Und Amenemhats langjähriger Vertrauter schien ihr im Moment der Einzige, der Verständnis für ihre Sorgen aufbringen konnte.
„Er hat mich weg geschickt; er hat sich so... anders verhalten als sonst!“
„Nun...“ Der Priester legte die Hände um den tönernen Bierkrug vor sich. „Es sind viele Dinge geschehen in der letzten Woche, Ehrwürdige Meritamun“, antwortete er bedächtig. „Die Tage im Kerker des Pharao, der Angriff der Libyer, der Tod Ramses’ ... Die Regentschaft über Kemet ist eine schwere Bürde. Sie verlangt das ganze Herz eines Mannes.“
Debora seufzte und hielt in ihrer Wanderung durch das Zimmer inne, den Blick auf das Fenster gerichtet, von dem aus die prächtige Toranlage des Tempels zu sehen war. Natürlich hatte Menkheperre Recht mit dem, was er sagte. Aber... „Es ist nicht nur das! Es war... etwas an ihm... ich kann es schwer beschreiben...“
Ihre Augen verfingen sich in den in der Abendsonne leuchtenden bemalten Reliefs von Pharao Ramses’ II. Kriegszug. Sie hatte die Darstellungen schon oft betrachtet, aber diesmal fühlte sie sich seltsam angerührt von ihnen. Als ob ein finsterer Hauch von ihnen zu ihr wehte, der nichts mit der einsetzenden Dämmerung zu tun hatte. Sie wandte sich wieder ihrem Gast zu.
„Amenemhat war immer so unerschütterlich, so voller Kraft und Vertrauen in sich und seine Ziele! Aber als ich ihm gestern morgen an Bord dieses Schiffes begegnete, hatte ich das Gefühl, dass... dass diese Säule in ihm... zerstört war! Dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist! Mehr als das Verlies und der Krieg und die Regentschaft! Und ich sollte bei ihm sein, nicht hier!“
„Ehrwürdige Meritamun, der Platz einer Frau ist nicht auf einem Feldzug. Das ist gegen die Heilige Ordnung!“
„Mein Platz ist an Amenemhats Seite! Egal wohin er geht! Deshalb...“ Sie holte tief Atem. „... werde ich zu ihm gehen! Und wenn ich durch den Abgrund der Unterwelt wandern muss!“
Ihr Entschluss war gefasst. Jetzt fragte sie sich nur, warum sie überhaupt so lang darüber nachgedacht hatte; warum überhaupt sie zugelassen hatte, dass dieser Soldat sie gestern bis nach Ipet-Isut zurückgeschleift hatte! „Ich reite den Schiffen nach! Ihr habt doch Pferde hier! Ich habe sie vor ein paar Tagen erst gesehen!“
Menkheperre musste an sich halten, nicht den Kopf zu schütteln und in eine Flut von Ermahnungen auszubrechen, wie er sie seiner eigenen Gemahlin in diesem Fall sicherlich erteilt hätte. Diese Fremdländerin war in der Tat eine ungewöhnliche Persönlichkeit, da hatte Amenemhat völlig Recht! Sie war anders als alle anderen Frauen, die er kannte. Nicht nur ihr Haar schien aus Flammen zu bestehen, sondern ihre ganze Seele. War das der Grund, warum der Hohepriester sie so sehr liebte? Menkheperre begann zu ahnen, was Amenemhat und Meritamun miteinander verband. Sie waren aus demselben Holz geschnitzt, mit demselben Hauch aus dem Mund des Schöpfergottes beseelt. Aber umso weniger wollte er derjenige sein, unter dessen Verantwortung sich die junge Frau in Lebensgefahr begab!
„Meritamun, wenn dir etwas geschieht und Amenemhat findet dich nicht vor bei seiner Rückkehr, wird er untröstlich sein! Ich kann dich nicht gehen lassen!“
„Ich werde mich nicht aufhalten lassen!“ Sie begann hastig, ihre Armreifen und ihren übrigen Schmuck abzustreifen. „Ich muss zu Amenemhat. Nichts wird mich aufhalten!“
Wie Iset, als sie sich auf die Suche nach ihrem Gemahl begibt, dachte Menkheperre beeindruckt und in höchstem Maße beunruhigt zugleich. Iset war eine Unsterbliche und konnte sich diese kapriziöse Sturheit erlauben! Meritamun mochte die Frau des Ersten Gottesdieners von Ipet-Isut sein, aber sie war nur ein junges Mädchen! „Ich bitte dich, noch bis Morgen zu warten; in Ruhe darüber nach zu denken...“
„Nein, ich will keine Zeit mehr verlieren. Ich weiß, dass er mich braucht, und ich will da sein!“
„Nimm wenigstens einen der Tempelwächter mit!“
Debora nickte. „Wenn er gut reiten kann, will ich das tun! Jetzt bring mich hinüber zu den Stallungen, damit ich mir ein Pferd auswählen kann!“ Sie merkte, dass ihr Tonfall eher dem Herumkommandieren der Knechte auf dem Hof ihres Vaters entsprach und berührte Menkheperre mit einer entschuldigenden Geste an der Schulter. „Bitte,
Weitere Kostenlose Bücher