Der Skorpion von Ipet-Isut
ich verspreche es dir“, sagte er und lächelte.
Nefertari erwiderte das Lächeln nicht. Sie schritt so rasch an Kemar vorbei, dass ihre Schmuckschärpe dem Knienden ins Gesicht schlug und trat ans Fenster. Das Wasser des Flusses glänzte im Sonnenlicht und eine Schar Gänse stieg soeben schnatternd auf. Irgendwo weiter im Norden war unterdessen Amenemhats Kriegsflotte unterwegs... Wenn es ihm gelang, gegen Smendes von Men-Nefer und seine Bundesgenossen die Oberhand zu gewinnen... Nein, das durfte nicht passieren! Und wenn Kemar unfähig war, ihr dabei behilflich zu sein, Amenemhat in die Knie zu zwingen, dann… Ihr fiel eine andere Person ein, die wohl mehr Verstand und Zielstrebigkeit an den Tag legen würde, um den ‚Skorpion von Ipet-Isut’ zu besiegen! Sie ballte die Fäuste, bis ihr die Fingernägel ins Fleisch schnitten. Ja, der Oberpriester des Ptah würde ihr sicherlich behilflich sein… Er würde nur zu gern Smendes von Men-Nefer die Tore Wasets öffnen lassen, ganz gewiss! Der Gedanke an Amenemhats Gesichtsausdruck, wenn er seine geliebte Stadt in den Händen des Feindes sehen würde, bereitete ihr schon jetzt wollüstige Genugtuung. Sie würde dafür sorgen, dass er möglichst lange diese Schmach auskosten konnte... von der Siegesparade der Libyer durch Waset bis hin zu Smendes’ Krönung. Sie würde dafür sorgen, dass er im Staub vor ihm kroch... und dann würde sie sich natürlich mit seiner geliebten kleinen Fremdländerhure befassen... Sie würde sie den Soldaten der Libyer zur Verfügung stellen, am Besten so, das Amenemhat ihnen dabei zusehen konnte... Für einen Moment war ihr Zorn nicht stark genug, die Verzweiflung zu zügeln, die sie bei diesem Gedanken wieder überkam. Amenemhat, wie konntest du das tun? Wie konntest du dieses Nichts einer Fremdländerin mir vorziehen? Wie konntest du mich einfach... einfach vergessen, mich wegwerfen?
In einer der Krankenstuben des Ptahtempels von Waset kämpften Kahotep und zwei seiner Gehilfen seit Stunden um das Leben von Ramses’ junger Witwe und das ihres ungeborenen Kindes. Soweit Kahotep bisher aus Kiyas Worten hatte entnehmen können, hatte Nefertari versucht, sie zur Flucht nach Men-Nefer zu bewegen. Die junge Frau hatte abgelehnt. Und Nefertari offenbar zum Mittel der Entführung gegriffen, um ihre Pläne zu verwirklichen... Ein Komplott mit den Gaufürsten und den Libyern gegen Amenemhat?! Das war eine Vorstellung, die der Oberpriester des Ptah Mühe hatte zu erfassen. Aber im Moment schien es die einzig vernünftige Erklärung für die Ereignisse zu sein.
Wieder klangen Kiyas gequälte Schreie durch den Raum. Kahotep hatte sie in halb sitzender Stellung festbinden lassen, als klar wurde, dass ihr selbst die Kraft fehlte sich aufrecht zu halten. Aber keine Frau sollte im Liegen gebären; das war stets ein böses Vorzeichen! Und im Falle Kiyas schienen die Götter ohnehin nicht sonderlich wohl gesonnen... Hatte Amenemhat sie vielleicht tatsächlich mit einem todbringenden Zauber belegt? Kahotep kniete nieder, strich über das kleine Amulett des Schutzgottes Bes auf Kiyas schweißnasser Brust, und dann über ihre Stirn.
„Ich werde sterben... nicht wahr?“ flüsterte sie heiser. „Und mein Kind...“ Ihr Kopf sank zurück gegen die Schulter des hinter ihr sitzenden und sie stützenden Priesters, ehe Kahotep antworten konnte. Er erhob sich wieder, warf einen Blick in Richtung Fenster. Es war bereits Abend, Ra schickte sich zu seiner nächtlichen Fahrt durch die Unterwelt an. Kiyas Kraft schwand ebenso rasch dahin. Er hatte ihr zweimal stärkende Medizin verabreicht. Die gleiche Rezeptur ein drittes Mal anzuwenden, davor warnten die Papyri der Weisen.
Kahotep lehnte sich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Er sah Kiya vor sich, vor einigen Monaten, wie sie durch den Garten ihres Vaters in Men-Nefer tobte: ein fröhliches Kind. Er hatte ihre Kindheit beendet und sie an die Seite des Pharao gehoben, einen Platz, den sie nicht wollte, eben so wenig wie Ramses irgendein näheres Interesse an ihr gehabt hatte. Ich bin Schuld an ihren Schmerzen, und wenn sie stirbt, schuld an ihrem Tod, dachte Kahotep. Seine eigene Erschöpfung ließ ihm diesen bitteren Gedanken nur umso lastender werden. Er hatte so gründlich versagt, nicht nur, was den Skorpion von Ipet-Isut betraf! Auch, was seine Pläne für die Wiederherstellung der Größe Ptahs anging, seine Pläne für Ramses, die Dynastie, die neue Residenz! Alles war nichts
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