Der Skorpion von Ipet-Isut
Bedeutung. Neben dem Hohepriester stolperte der junge Sohn des Gaufürsten von Men-Nefer, an den Armen gefesselt und an einem Packesel festgebunden. Ein paar Mal war er schon gestürzt, ganz eindeutig am Ende seiner Kräfte. In seinem Gesicht hatten getrocknete Tränen weiße, salzige Spuren hinterlassen.
Die Hitze des Nachmittags flirrte über den Steinen. Ein paar der Männer schworen flüsternd, sie hätten hier, so nahe an der Pforte zur Unterwelt, die Geister rastloser Toter umher irren sehen, denen aufgrund ihrer Verbrechen der Eintritt in die Gefilde der Seeligen verwehrt worden war. Die Tritte hunderter Füße und das leise Klirren von Rüstungen wurden zu einem monotonen, einschläfernden Geräusch. Amenemhat rezitierte im Geiste den großen Hymnus an Amun-Ra, den Rhythmus seiner Schritte an den Klang der Silben anpassend. Ein erschöpfter Schmerzenslaut riss ihn aus den mühsam konzentrierten Gedanken. Als er den Kopf wandte, sah er, wie einer der Offiziere den Sohn des Gaufürsten auf die Füße zog. Der Körper des Jungen hing schlaff in den Armen des Kriegers; aus einer Wunde am Knie sickerte Blut.
„Setz’ ihn auf den Esel!“ befahl Amenemhat. „Und seine Verletzung soll versorgt werden!“ Im Grunde musste er sich nicht erklären, aber als Sobekemsafs skeptischer Blick ihn traf, fügte er hinzu: „Der Knabe ist meine Geisel – nicht die Wüste tötet ihn, sondern ich, falls sein Vater sein Wort nicht hält!“
Sobekemsaf nahm den Befehl mit einem kurzen Neigen des Kopfes zur Kenntnis. Er billigte die Entscheidung, aber hieß sie nicht gut. Während man sich um den Sohn des Gaufürsten bemühte, ließ der General den Blick über seine Truppe wandern. Nicht nur der Junge, die Meisten von ihnen allen hätten eine längere Rast nötig gehabt. Aber sie mussten noch vor Sonnenuntergang in ebenem Gelände sein – sonst wäre die Gefahr zu groß gewesen, dass der Gegner sie überraschte. Waren sie erst einmal in der Ebene, würden sie die Bewegungen des Feindes rasch ausmachen können. Und dieser würde, da war sich Sobekemsaf sicher, in der Ebene auch keinen offenen Angriff bei Dunkelheit wagen. Das brachte seinem erschöpften Heer einige Stunden der dringend benötigten Erholung. Wenn sie nur erst die letzte Wegstrecke durch die Felsen bewerkstelligt hätten...
Er hörte ein Klirren. Als er sich umwandte, sah er, wie Amenemhat sich seines Schutzpanzers entledigte. „Erhabener, du solltest dich nicht-“
„Ich vertraue auf den Schutz Amuns“, war alles, was der General zur Antwort bekam. „Amun wird uns den Sieg verleihen, Sobekemsaf! - Vorwärts!“
Debora war zwei Tage beinahe ohne Rast geritten. Allein, nachdem sich in Ipet-Isut niemand gefunden hatte, der so viel Erfahrung mit Pferden aufwies wie sie und vor allem so gut reiten konnte. Selbst die wenigen Pausen, die sie eingelegt hatte, waren mehr aus Sorge um ihr Reittier geschehen als ihr selbst zuliebe. Dabei verspürte sie nicht einmal Hunger, und kaum Durst. All ihre Gedanken, ihr ganzes Sein, war so auf Amenemhat und ihn zu erreichen ausgerichtet, dass sie kaum etwas anderes wahrnehmen konnte. Als sie den Rest der Truppen des Regenten erreichte, die kurz vor Abudo die Stellung hielten, war sie so erschöpft, dass sie halb bewusstlos aus dem Sattel glitt, dem kommandierenden Offizier vor die Füße.
Das nächste, woran Debora sich wieder erinnern konnte, war, dass sie in einem der Zelte am Ufer lag, einen der das Heer begleitenden Heilkundigen neben sich.
„Amenemhat… wo ist… Amenemhat?“ fragte sie mühsam und fühlte ihre Kehle rau und schmerzend von dem Ritt durch die Sonne ohne ausreichend Wasser. Sie wandte den Kopf, blinzelte, als ihr schwindlig wurde. Verzweifelt stellte sie fest, dass sie tatsächlich mit dem jungen unbekannten Mann allein hier war. Stimmen klangen von draußen zu ihr, aber Amenemhats war nicht darunter. Sie stützte sich auf, trotz der Proteste des Arztes. „Wo ist Amenemhat? Sprich! Ich bin seine Gemahlin! Ich bin die Gemahlin des Ersten Gottesdieners!“
„Ich weiß.“ Der junge Heilkundige legte ihr die Hand auf die Stirn. „Pennut hat dich erkannt, erhabene Meritamun. Aber was tust du hier, allein, ohne eine angemessene Begleitung? Das ziemt sich nicht! Und du hast dich in große Gefahr gebracht… Dich und dein Kind!“
Debora schob seinen Arm zurück. „Wo ist Amenemhat?“ wiederholte sie mit wachsender Besorgnis.
„Über die Berge gen Westen mit dem Hauptteil des Heeres – die
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