Der Skorpion von Ipet-Isut
als Rauch, der sich verflüchtigt hatte!
Eine erneute Wehe riss Kiya aus der Bewusstlosigkeit. Sie begannen jetzt so rasch aufeinander zu folgen, dass die junge Frau keuchend nach Atem rang. Wieder floss Blut auf die unter ihr ausgebreiteten Tücher. Kahotep fasste einen letzten verzweifelten Entschluss. Er wandte sich zum Tisch, auf dem er bereits diverse Arzneien vorbereitet hatte, füllte den Rest zerstoßenen Mohnsamen in ein Trinkgefäß und griff dann eines der Skalpelle aus Obsidian. Ptah, der Schöpfer mochte ihm beistehen…
Stunden später saß Kahotep auf seinem Lager, zu erschöpft um Schlaf zu finden. Die vergangenen Anstrengungen im Kampf um das Leben Kiyas und ihres Kindes jagten mit wirren Sequenzen durch seinen Kopf. Es erschien ihm immer noch ein Wunder der Götter, dass die junge Frau überlebt hatte und auch ihre kleine Tochter. So winzig, dünn und Kahoteps Meinung nach unfertig das Neugeborene ausgesehen hatte, es atmete und schrie mit unvermuteter Kraft. Nun blieb nur noch, Hathor reichlich Opfer darzubringen, damit Mutter und Kind die kommenden Tage überstanden.
Wer hatte den Auftrag gegeben für diese Entführung, fragte der Oberpriester sich erneut. Tatsächlich Königsmutter Nefertari? Oder doch Amenemhat? Wem könnte es nützen, wenn die Witwe Pharao Ramses’ und ihr Kind verschwanden? Wenn der Erste Gottesdiener von Ipet-Isut Ramses auf dem Gewissen hatte – woran Kahotep nicht zweifelte – war es nur logisch, auch das Kind des Pharao zu beseitigen. Allerdings … der Hohepriester hatte Ramses mitten im Palast ins Totenreich befördert; warum sollte er im Falle seiner Witwe derartige Rücksichten walten lassen und sie erst an einen anderen Ort bringen lassen, ehe er ihrem Leben ein Ende setzen ließ?
Der Schmerz hinter Kahoteps Schläfen begann stärker zu hämmern. Er legte sich zurück, schloss die Augen. Für eine kurze Zeit entglitt er tatsächlich in eine Art Halbschlaf, schrak aber wenig später mit klopfendem Herzen wieder auf.
In diesem Moment bewegte sich der Vorhang in der Tür seiner Kammer, und einer der Ptahpriester trat ein. „Erhabener, die ehrwürdige Nefertari ist hier und wünscht dich zu sprechen!“
Kahotep schwang die Beine aus dem Bett. „Nicht jetzt“, murmelte er. „Ich bin im Augenblick… nicht in der Verfassung, jemanden zu empfangen.“
„Aber wir können sie nicht abweisen!“ entgegnete der andere Priester mit einer entschuldigenden Verbeugung. „Sie sagt, es sei eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, und sie müsse dich umgehend sprechen!“
Kahotep seufzte. Dann griff er nach der Wasserschale, tauchte die Hände ein und fuhr sich über das Gesicht. „Bestelle der ehrwürdigen Nefertari, dass ich gleich bei ihr sein werde!“
Die Königsmutter erwartete ihn in einem der Räume vor der zweiten Pforte. Sie war ohne Bedienstete, ohne ihre Leibgarde gekommen. Das allein ließ Argwohn in Kahotep erwachen. Nefertari rangierte in seiner Meinung nur wenig über Amenemhat – jemand, der sich so willig dem Gift eines Skorpions hingab, verdiente keine Achtung!
Er fühlte sich von einem forschenden Blick abgetastet. Nefertari vermochte die Verachtung, die sie für ihn empfand, nicht gänzlich zu verbergen. Oder sie bemühte sich nicht, es zu tun. Er war ganz klar ein Übel, das man in Kauf nahm, um ein höheres Ziel zu erreichen. Die Vorstellung stieß ihn ab, aber ehe er dazu kam, etwas zu sagen, hatte Nefertari das Wort ergriffen.
„Kahotep, Erster Gottesdiener des Ptah…“ Er empfand ihre Stimme als ebenso ölig und widerwärtig wie ihren Blick. „Ich weiß, dass du die Ambitionen des momentanen Regenten stets mit großen Missfallen betrachtet hast. Ich weiß, dass es dir am Herzen liegt, Men-Nefer zu seinem alten Glanz zu verhelfen und dem Gütigen Ptah die Ehre zu geben, die ihm gebührt.“
Kahotep fühlte, wie sich eine unangenehme Schwere in seinen Magen senkte. Beabsichtigte Nefertari, ihn jetzt, da sein Beschützer Ramses nicht mehr am Leben war, für seinen Kampf gegen Amenemhat zu strafen? Ihn vielleicht an den Ort zu schicken, in dem der Herr von Ipet-Isut vor noch nicht allzu langer Zeit gelegen hatte? Sein priesterlicher Stand mochte ihn vor derartigen Willkürakten nicht beschützen…
„Ich gebe dir eine Möglichkeit, all das zu erreichen, was du dir wünschst, Erster Gottesdiener des Ptah“, hatte Nefertari weiter gesprochen, während sie um ihn herum wanderte wie um einen interessanten fremdländischen
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