Der Skorpion von Ipet-Isut
herauf beschworen. Würde Ramses eines Tages auch Tempel schließen und Kulte untersagen lassen? Nicht nur den Amuns sondern vielleicht auch der übrigen Götter, deren Wohlgefallen so wichtig für das Gedeihen des Landes war? Würde er die heiligen Bilder und Statuen zerstören lassen, die den Auftraggebern so viel gekostet hatten?
Andere gedachten der Tatsache, dass sie Verwandte in Ipet-Isut oder einem der anderen Amun geweihten Tempel hatten, die sie nun womöglich mit durchfüttern mussten. Und Ältere sahen die Zukunft ihrer Grabstätten und ihre Bereitung für das ewige Leben in Gefahr. Während Kopien des königlichen Erlasses angefertigt wurden, begleiteten finstere Mienen das Tun der Schreiber.
Kapitel 7
Mit einer Verbeugung in Richtung der aufgehenden Sonne stieg Amenemhat in das Wasser des Heiligen Sees. Der Morgenhimmel breitete sich übersät mit kleinen rotgolden angehauchten Wolken über ihm aus und die ersten Strahlen der Sonne küssten die goldenen Spitzen der Obelisken. Es war ein Moment, den er liebte seit seiner Kindheit. Aber heute wurde die Schönheit getrübt. Er hatte die Flaggen von den Masten nehmen lassen, um sichtbar an das Unrecht der Landkonfiszierung zu mahnen; nun streckten sich die Stangen wie tote Finger in den Himmel. ‚Weil es sein königliches Recht sei, für Ordnung und Frieden zu sorgen‘, hatte es in dem Papyrus geheißen, den Ramses’ Bote ihm gestern feierlich verlesen hatte. Als ob es der Ordnung und dem Frieden diente, die Traditionen umzustoßen und zu rauben! Der König sollte die Ma’at garantieren, das Gleichgewicht der Kräfte, nicht sie umstoßen! Doch anstatt stellvertretende Sühne für den Frevel der Entweihung Ipet-Isuts zu leisten, entweihte er den heiligen Ort noch mehr!
Amenemhat streckte die Hände in das rot glänzende Wasser aus.
Frevel…Was ist der größere Frevel vor den Göttern? Das Chaos mit meinen Händen aufzuhalten oder seinem Verlauf schweigend zuzusehen? Welchen Unterschied macht es ob der alte Ramses oder sein Sohn? Blut ist Blut...
Das nervöse Räuspern eines seiner Begleiter riss den Hohepriester aus seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Er beendete die Waschung und stieg die flachen Treppen hoch zum Ufer, während die Sonne ihre volle Pracht über die Pylone von Ipet-Isut ergoss. Während seine Assistenten ihn ankleideten, dachte Amenemhat an die Liste mit den Zuteilungen der Priester zum Tempeldienst, die er am Morgen noch vor dem Gang zum See konsultiert hatte. Dass Iny ihm die Einkünfte aus dem verpachteten Land genommen hatte, war eine Sache. Bedeutsamer und härter war die Entscheidung, auch das Land, das im Eigenbesitz seiner Priester war, einzuziehen. Was sollte mit ihnen und ihren Familien geschehen? Eine Anzahl von den Dienern Amuns würde er zeitweise von ihren Pflichten entbinden und hoffen, dass sie damit dem Erlass des Pharaos entgingen… obwohl er nicht zu viele Hoffnungen daran knüpfen wollte. Aber die Versorgung der Übrigen würde auf jeden Fall zum Problem werden, wenn es nicht gelang, Iny zur Vernunft zu bringen! Er beschloss, diesbezüglich im Palast vorstellig zu werden.
Zwei Wochen darauf hatte der Herr von Ipet-Isut diesen Weg zum vierten Mal unternommen. Iny-Ramses hing gelangweilt auf dem Thron, wie eigentlich jedes Mal, wenn Amenemhat ihn bisher gesehen hatte. Und wie ebenfalls jedes Mal reizte ihn dieser Anblick bis aufs Blut. Rings um brodelte der Aufruhr, und Iny sonnte sich wie ein sorgloses Milchkind in dem, was für ihn Macht darstellte.
„Großer Horus, es schmälert deinen Ruhm, wenn die Tempel deines Reiches verödet stehen und die Priesterschaft des Notwendigsten beraubt ist“, hatte der Hohepriester soeben gesagt. Es war das Nächste zu einer offenen Bitte, was er sich abringen konnte, und das kostete ihn Überwindung genug. „Die Feinde Kemets werden glauben, dass dir die Mittel fehlen, deine Vorgänger in Gaben für die Häuser der Götter zu übertreffen.“
Der junge Pharao musterte ihn mürrisch.
„Was maßt du dir an zu wissen, was die Feinde Kemets denken, Erster Diener Amuns? Gehörst du zu ihnen?“ antwortete Kahotep an Inys Stelle auf einen Wink des Königs hin. Einer der im Hintergrund stehenden Höflinge kicherte verhalten.
Was für eine erbärmliche Narrenposse dachte Amenemhat und richtete das Wort wieder an den Pharao: „Ich weiß, Erhabener Horus, dass meine Person keine sonderliche Achtung in deinen Augen genießt und mein Rat noch weniger gilt. Ganz im
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