Der Skorpion
zu. In den miteinander verbundenen Räumen war es verhältnismäßig ruhig, nur wenige Polizisten arbeiteten Nachtschicht, ein Telefonist bediente die Fernsprecher im Gruppenraum. Ein schmuddeliger Mann mit Handschellen und klirrenden Fußfesseln schleppte sich zu einem Stuhl beim Schreibtisch des Deputy. Aschfahl im Gesicht, mit fettigem Haar, Blutflecken auf den Jeans, schien der Kerl unter Drogen zu stehen. Als Pescoli vorüberging, versuchte er gerade mühsam, sich hinzusetzen, und hätte um ein Haar den Stuhl verfehlt.
Fröhliche Weihnachten, dachte sie und knöpfte ihre Jacke auf. An ihrem Arbeitsplatz hatte Deputy Kyan Rule es sich bequem gemacht. Er wartete auf sie, hatte ein Bein über die Ecke des Schreibtischs gelegt und die großen Hände ums Knie gefaltet.
»Ich gehe nicht los und hole Jeremy aus dem Knast«, sagte sie.
»Mit dieser Einstellung habe ich gerechnet.«
»Das ist keine ›Einstellung‹, es ist einfach Tatsache.«
»Hey! Ihr könnt mich nicht verhaften!« Dem Drogentypen schien allmählich zu dämmern, dass er in der Patsche steckte. Komisch, als man ihm Handschellen und Fußfesseln anlegte, hatte er es offenbar nicht begriffen.
Rule warf einen Blick zu ihm hinüber und sagte zu Pescoli: »Gehen wir irgendwohin, wo wir mehr Ruhe haben.« Er erhob sich von ihrem Schreibtisch, und sie gingen den kurzen Flur zum hinteren Teil des Gebäudes entlang.
Zum Glück hielt sich niemand in der Küche auf. Pescoli warf Jacke und Mütze auf einen Tisch und wischte sich das Haar aus den Augen. »Und damit Sie eins wissen: Ich rufe meinen Sohn auch nicht an. Heute Nacht nicht.«
»Bestimmt nicht?« Rule kaufte ihr diese neuerliche toughe Vorstellung anscheinend nicht ab.
»Verlass dich drauf. Er soll nicht glauben, dass er Privilegien hat, bloß weil er der Sohn einer Polizistin ist. Wenn überhaupt, muss er sich noch mehr anstrengen, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben.«
»Sie haben als Teenie nie Mist gebaut?«
»Nie.«
»Quatsch.«
»Okay, in Ordnung«, gab sie schulterzuckend zu. »Aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, meinem Sohn meine Fehltritte anzuvertrauen. Das kommt später.« Sie ging zu einem Tresen im Nebenraum, dem einzigen mit einem Fenster. Durch die winzige Scheibe konnte sie über den Hof hinweg die Jugendstrafanstalt sehen. Die meisten staatlichen Behörden, abgesehen vom Gerichtsgebäude, hatten ihren Sitz hier oben auf dem Boxer Bluff, und die Jugendstrafanstalt machte keine Ausnahme. Es war ein langgestrecktes, niedriges, sandfarbenes Backsteingebäude mit großen Rasenflächen, die jetzt weiß von überfrorenem Schnee waren. Von drinnen leuchtete warmes Licht in die eisige Nacht hinaus.
Das Herz tat ihr weh, und ihr erster Impuls war, so schnell sie konnte über den überfrorenen Parkplatz und den verschneiten Rasen zu laufen, durch die Tür zu stürmen, Jeremy rauszuholen und die ganze Sache als nie geschehen zu betrachten. Dankbar, dass er lebte und, soviel sie wusste, unverletzt war, hätte sie am liebsten beide Augen zugedrückt und den Vorfall ignoriert.
Ach Joe, dachte sie und beschwor das Bild ihres ersten Mannes, Jeremys Vater, vor ihrem inneren Auge herauf. Wenn du doch jetzt bei mir wärst …
Pescoli fing sich wieder. Bemerkte, dass sie die Tresenkante so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß durch die Haut schimmerten.
»Alles in Ordnung?« Rules Bariton riss sie aus ihren Gedanken. Er war ein guter Mann. Freundlich, aber hart. Weichherzig, aber stark wie ein Bär. Er musterte sie mit seinen dunklen Augen, und einen Herzschlag lang wollte sie es sich wieder anders überlegen. Ihr instinktiver Wunsch, Jeremy aus dem Knast zu holen, mit dem Polizisten zu sprechen, der ihn eingebuchtet hatte, in irgendeiner Weise ihren Status und ihren Einfluss einzusetzen, um seinen Gesetzesbruch ungeschehen zu machen, brach sich Bahn.
Sie biss die Zähne zusammen.
Sie musste ihn im eigenen Saft schmoren lassen. Er benötigte Zeit, um über seinen Fehler nachzudenken, sich einen anderen Weg zu suchen, wie er mit seinen Problemen umging. Er war zu alt, um sich auf seine Mutter als Sicherungssystem zu verlassen, darauf, dass sie ihn aus irgendwelchen Schwierigkeiten herausboxte. Besonders, wenn es um Gesetzesbrüche ging. Und angesichts der Statistiken über Teenager und Alkohol, Drogen und Autofahren …
Nein, er musste den Unterschied zwischen Recht und Unrecht erkennen lernen und auf eigenen Füßen stehen. Doch als sie in den Speiseraum
Weitere Kostenlose Bücher