Der Skorpion
schön«, knirschte Pescoli. Sie war wütend, weil sie wahrscheinlich ihre Zeit verschwendet hatten. Es sei denn, die Kriminaltechniker fanden in MacGregors Hütte noch irgendetwas von Interesse, was bisher aber nicht der Fall gewesen war.
Sie waren fast beim Revier angekommen, wo Alvarez ihren Wagen abgestellt hatte, als Regans Handy klingelte. Mit einem Blick sah sie, dass der Anruf aus dem Büro des Sheriffs von Pinewood County kam. »Wir haben wohl doch noch nicht frei.«
»Vielleicht hat sich in unserem Fall etwas getan.«
Sie meldete sich: »Pescoli.«
»Pescoli, hier spricht Rule.«
Kyan Rule war ein Streifenpolizist, ein großer Schwarzer mit der Statur eines Basketballspielers und einem schiefen weißzahnigen Lächeln, das das Herz so mancher Frau höherschlagen ließ. Pescoli selbst war auch nicht immun gegen den ernsten Charme des Mannes. »Was gibt’s?«, fragte sie, während sie einen Schneepflug aus der Gegenrichtung passierten.
»Schlechte Nachrichten.« Jetzt erst fiel ihr der nüchterne Tonfall seiner tiefen Stimme auf.
»Ach, was ist denn jetzt schon wieder? Sagen Sie nicht, wir haben ein weiteres Opfer zu verzeichnen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Alvarez sich zu ihr umwandte.
»Nein. Es geht um Ihren Sohn.«
Das Krankenhaus ragte schmucklos auf in der Nacht, erhob sich über die Gebäude der Poliklinik rundum und die miteinander verbundenen Parkplätze für die Ärzteschaft von Grizzly Falls. Pinewood General Hospital war klein im Vergleich zu den Gebäudekomplexen in größeren Städten, aber dennoch einer der größten in dieser Stadt. Von seinem Standort auf dem Felsvorsprung aus überragte es den älteren Teil der Stadt, man hatte von dort einen freien Blick auf den Fluss weit unten. Das Büro des Sheriffs befand sich knapp drei Meilen entfernt.
Der unablässige Schneefall dieser Nacht dämpfte die Lichter des Krankenhauses, sie waren aber in der Dunkelheit noch sichtbar. Zwischen den leeren Buchten des verschneiten Parkplatzes bewegte sich ein Streifenwagen des Büros des Sheriffs von Pinewood County, ein Anzeichen dafür, dass hier immer noch eine Patientin bewacht wurde.
Dieses Weib starb einfach nicht!
Und die Zeit lief ihm davon.
Ihr Zimmer befand sich im zweiten Stock.
Der Wachtposten, nicht eben einer der Hellsten, schlenderte manchmal hinunter zur Cafeteria, um sich frischen Kaffee oder einen Imbiss zu holen. Gelegentlich suchte er die öffentlichen Waschräume auf. Dann wieder flirtete er mit den jungen Krankenschwestern. Aber er war trotzdem da.
Also konnte in dieser Nacht kein Kontakt hergestellt werden.
Doch gleich am Morgen, in ein paar Stunden, wenn im Krankenhaus Schichtwechsel war und der elende Wachmann abgelöst wurde, bekam er seine Chance.
Wenn nicht zum Töten, dann doch, um sie wieder von hier fortzulocken.
Zu einem neuen Mordschauplatz.
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22. Kapitel
U m meinen Sohn?«, wiederholte Pescoli. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Mit plötzlich zitternden Händen lenkte sie den Jeep in die Seitenstraße, die zu den Behördengebäuden führte, unter denen hoch oben auf Boxer Bluff auch das Büro des Sheriffs war.
»Jeremy?«, flüsterte sie, und vor ihrem Auge blitzten Bilder auf, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen, Bilder von ihrem Sohn in einem schrottreifen Auto, das von einer vereisten Böschung gerutscht war, oder im Krankenhaus, an ein Beatmungsgerät angeschlossen, um sein Leben ringend. Lieber Gott, was sollte sie tun, wenn sie ihn verlor?
»Er ist wohlauf«, beruhigte Rule sie. Im Gespräch war kaum eine Pause eingetreten, doch einen Herzschlag lang hatte Pescoli ihrer schlimmsten Angst ins Auge gesehen – der Angst, dass sie, wenn sie zu einem Unfall gerufen wurde, eines ihrer Kinder in dem Wrack eingeklemmt vorfinden würde, blutüberströmt, die Haut grau wie die eines Toten. »Aber er wurde verhaftet.«
»Verhaftet?«, wiederholte sie und atmete auf. Gott sei Dank, er lebte. War unverletzt. »Weswegen?«
»Minderjährig im Besitz von Alkohol«, erklärte Rule. »Er ist ziemlich hinüber. Wir haben ihn in den Jugendvollzug gesteckt, aber er brüllt herum und verlangt, dass Sie ihn rausholen.«
Augenblicklich verwandelten sich ihre tiefsten Ängste in Wut. »Er hat getrunken?«
»Er und drei andere. Eine von denen ist Brewsters Tochter.«
Mit mühsam beherrschter Wut und nur geringfügig schlitternden Reifen bog sie auf den Parkplatz ein. »Doch nicht etwa Heidi.« Brewsters Jüngste. Die verwöhnte
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