Der Skorpion
Immerhin konnte sie inzwischen ohne Beschwerden lachen und atmen. Husten jedoch war noch nicht möglich.
»Was besagt die Abwesenheitsmeldung?«
»Tut mir leid, ich bin nicht zu Hause. Hinterlassen Sie eine Nachricht. Ich rufe Sie an.« Sie zögerte. »Außer im Büro. Da heißt es: ›Ich bin für ein paar Tage geschäftlich unterwegs. Hinterlassen Sie in dringenden Fällen eine Nachricht bei meiner Sekretärin …‹« Sie dachte an die Zeit ihrer Ehe. Wie oft hatte sie damals Masons Standardspruch gehört. Er hatte sich nicht verändert – nicht einmal im Tonfall. In diesem Augenblick kam ihr blitzartig etwas in den Sinn.
»Was ist?«
»Mason und ich, wir hatten ein Haus in Spokane – ein Haus, das er bei der Scheidung zugesprochen bekam. Und … das ist die gleiche Meldung, die er immer dann hinterließ, wenn wir wegfuhren, und sie erinnert mich daran, wie er in Spokane Zuflucht suchte.«
»Was genau meinst du?«
»Mason hat auch eine Zulassung als Anwalt in Washington. Vielleicht hat er das Haus in Spokane behalten.«
»Und …?«
Halbgare Ideen, Erinnerungsfetzen, die sie lange gequält hatten, fügten sich zusammen. »Und wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, aber auch Aaron war immer fasziniert von Spokane … na ja, es gab viele Orte, die ihn faszinierten, aber ich meine, mich zu erinnern, dass Spokane für ihn einer der Orte war, an dem er sich niederlassen würde, wenn es ihm je in den Sinn käme, sesshaft zu werden. Spokane oder Bend in Oregon, oder Colorado Springs … irgendwo in der Nähe von Tahoe. Spokane war auf jeden Fall einer dieser bevorzugten Orte. Ich schätze, da haben er und Mason etwas gemeinsam.«
MacGregor sah sie an, ließ sie ihre Gedanken verarbeiten. »Du meinst, Spokane könnte eine Art Schlüssel sein?«
Plötzlich kam ihr noch etwas in den Sinn, und sie fragte: »Hast du die Fotos von Aaron bei dir, die ich in Seattle zugeschickt bekam und mit denen diese ganze aussichtslose Verfolgungsjagd angefangen hat?«
»Kopien«, erinnerte er sie. »Die Originale liegen noch bei der Polizei. Sie sind im Auto. Ich hole sie.« Bevor sie noch ein Wort sagen konnte, stand er auf und schritt an den Bierreklamen vorbei, die sich im Sprühschnee an den Fenstern spiegelten.
Nachdem sie nun zu dem Schluss gekommen war, dass Spokane, nicht Missoula, ihr Ziel sein musste, war Jillian kribbelig und konnte kaum die zwei Minuten abwarten, bis Zane zurückkam und die Bilder auf den Tisch legte.
Sie studierte die körnigen Fotos und schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß nicht. Hier ist es zu dunkel.«
»Das können wir ändern. Sofort.« Er winkte der Kellnerin zu, warf ein paar Scheine auf den Tisch und half Jillian nach draußen. Ein paar Gäste sahen kurz von ihren Drinks auf – eine Frau in der Nähe der Tür und ein Typ am Tresen, der sich über sein Getränk beugte, wenn er nicht gerade auf den Bildschirm starrte.
Jillian spürte seinen Blick, und als sie sich über die Schulter hinweg umsah, wandte er sich rasch wieder seinem Drink zu, als wäre es ihm peinlich, dabei erwischt zu werden, wie er sie beäugte. Oder war es mehr?
Sie wollte es gar nicht wissen und ging, so schnell sie konnte, zurück zum Pick-up. In der Fahrerkabine suchte MacGregor eine Taschenlampe und eine Lupe.
»Wer bewahrt denn eine Lupe in seinem Handschuhfach auf?«, wunderte sie sich.
MacGregor hauchte auf die Linse und säuberte sie mit seinem Ärmel. »Mein Freund, der mir diesen Pick-up geliehen hat. Er ist ein bisschen …«
»Sonderbar? Paranoid?«
»Das, ja, und auch neugierig.« Er reichte ihr die Lupe, und sie suchte auf den Fotos nach Hinweisen auf irgendetwas, was ihr verriet, wo Aaron oder der Mann, der aussah wie er, sich zum Zeitpunkt der Aufnahme aufgehalten haben könnte. Doch kein Straßenschild war zu erkennen, und die Schaufenster der Läden sahen nicht anders aus als tausend andere im Land. »Das hier kann überall in den USA aufgenommen worden sein«, sagte sie. »Ob die Polizei das auch schon überprüft hat?«
»Ja. Und vielleicht wissen sie etwas, was sie uns bisher noch nicht gesagt haben. Aber wenn sie Mason Rivers nicht sehr gründlich überprüft haben, wissen sie womöglich gar nichts von Spokane.«
»Ich glaube, er hat dort nur als Rechtsberater gearbeitet, nicht als niedergelassener Anwalt. Aber genau weiß ich es nicht.«
»Ich meine, deine Entführung liegt noch nicht so lange zurück, und die Polizei muss noch ein paar weitere Opfer überprüfen, also
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