Der Skorpion
jetzt kam, stellte ihre Willenskraft auf eine harte Probe. Verbissen versuchte sie, das verletzte Bein über die Bettkante zu schieben. Wahnsinnige Schmerzen schossen durch ihre Wade.
Geh über den Schmerz hinweg, denk nicht an die Verletzung.
Sie hatte genug Selbstverteidigungskurse absolviert, um ihre Gedanken kontrollieren und sich konzentrieren zu können, aber, das Bein tat weh.
Sie atmete tief durch.
Noch einmal,
trieb sie sich an.
Du schaffst das.
Mit äußerster Mühe zog sie den Fuß an die Bettkante heran und drehte sich langsam, um das Bein hinüberschwingen zu können. Erst jetzt sah sie, was er mit ihr gemacht hatte: Er hatte ihren Knöchel verbunden und stabilisiert. Saubere Mullbinden fixierten eine Schiene aus zwei etwas zu langen Holzstäben. Es war die althergebrachte Art, nicht die maßgefertigten Plastikstiefel, die sie an verletzten Sportlern in der Schule gesehen hatte, doch wie es aussah, hatte ihr Sanitäter gute Arbeit geleistet.
Freilich war es längst kein Gehgips.
Dann entdeckte sie die Krücke. Beim Fußende des Betts an die Wand gelehnt.
Sie spürte eine leichte Gänsehaut. Der Kerl war bedeutend besser vorbereitet, als sie geglaubt hatte. Wer hatte schon immer eine Krücke zur Hand? Ein Arzt vielleicht? Oder … oder jemand, der selbst einmal eine benötigt hatte. Aber nun mal ehrlich, in diesem kahlen Raum – ausgerechnet eine Krücke?
Überleg nicht lange! Schnapp dir das Ding!
Vielleicht, wer weiß, ist er ja doch ganz nett.
Nein, so durfte sie nicht denken, solange sie nichts Näheres über ihn wusste. Er war ziemlich bald nach dem Unfall auf der Bildfläche erschienen. Aber warum trieb er sich mitten in einem Schneesturm draußen herum? Sie meinte, sich an einen Büchsenknall zu erinnern, als hätte jemand auf sie geschossen, bevor der Wagen ins Schleudern geriet. Auch wenn es nur eine Vermutung war, musste sie doch vorsichtig sein.
Weil sie hier in der Falle saß.
Bei einem Heilkundigen?
Oder bei einem Mörder?
Nicht daran denken. Noch nicht.
Sie zwang sich dazu, sich in Bewegung zu setzen, rutschte auf dem Bett zum Fußende hin und griff nach der Krücke. Irgendwie kam sie auf die Füße, ohne den verletzten Fuß zu belasten, und dann, mit voller Blase und dumpf schmerzendem Bein, näherte sie sich unbeholfen humpelnd der Tür und machte dabei entschieden mehr Lärm als beabsichtigt.
Trotzdem vernahm sie keinerlei Reaktion. Falls er in der Hütte war, hatte er sie nicht gehört.
Sie holte tief Luft, drehte den alten Türknauf aus Metall und drückte sanft gegen die Eichenplatten. Geräuschlos öffnete sich die Tür ein wenig, und sie spähte durch den Spalt in einen größeren Raum. Dort brannten keine Laternen, und der in Stein und Holz gehaltene Wohnbereich wirkte düster und trist. Einzig der Kamin gegenüber der Tür, an der Jillian stand, verbreitete ein wenig Licht.
Das Zimmer hatte eine hohe Decke, beinahe zwei Stockwerke hoch. Am anderen Ende führte eine Leiter hinauf in einen offenen Dachraum. Den Bereich unter dem Überhang dieses Dachbodens nahmen Bücherregale ein, in der Mitte des düsteren Raums stand ein massiver Tisch. Eine Art Schrank war an eine Wand gerückt, und in der Nähe des Kamins befand sich ein weiterer – eher ein Wandschrank, wie sie ihn vor fünfundzwanzig Jahren in Grandpa Jims Haus gesehen hatte. Ein abgeschlossener, handgefertigter Schrank, in dem er seine Jagdgewehre aufbewahrte.
Jillian schauderte ängstlich.
Natürlich besitzt er Gewehre. Du liebe Zeit, er lebt in der Wildnis! Vielleicht kannst du eines davon und etwas Munition in deinen Besitz bringen. Nur für den Fall, dass du es mal brauchst.
Ein Erinnerungsfetzen schoss ihr durch den Kopf; wieder hörte sie den Büchsenknall, und dann verlor sie die Kontrolle über ihren Wagen und schleuderte auf den steilen Abhang zu …
Ihr wurde innerlich kalt, ihr Mund war trocken vor Angst. Sie musste fort. Musste einen Fluchtweg finden. Jetzt gleich!
Mit Hilfe der Krücke stieß sie die Tür weiter auf und machte sich auf alles gefasst, überzeugt, dass jemand oder etwas sie anspringen würde.
Ein zerschlissenes Sofa stand neben dem Kamin an der Wand zu ihrem Schlafzimmer, dazu ein Sessel mit einem klobigen Polsterhocker, und eine Liege mit Schlafsack drückte sich in die Ecke, die von deckenhohen Bücherregalen dominiert wurde. An der Wand gegenüber fand eine Reihe von Fenstern Schutz unter dem Überdach einer langgezogenen Veranda mit nackten Dachbalken. Die Hütte
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