Der Skorpion
Fahrzeugpapiere.
Mit aller Selbstbeherrschung, die sie aufbringen konnte, versuchte sie, teilnahmslos zu bleiben, jedes nervöse Muskelzucken zu vermeiden und ihrem entspannten Körper keine Spur von Verkrampfung zu gestatten.
»Jillian? Hey.« Er berührte sie, legte seine warme Hand auf ihre Schulter.
Sie hätte am liebsten aufgeschrien.
»Wir müssen reden. Du und ich, wir stecken hier für eine Weile fest, zumindest, bis das Unwetter abklingt, und ich muss wissen, ob dir etwas fehlt. Du musst essen und trinken. … Jillian? Kannst du mich hören?«
Sie atmete scheinbar ruhig weiter.
»Ich weiß, dass du mich hören kannst, und zum Beweis könnte ich dich unter den Füßen kitzeln.«
Oh nein, bitte nicht! Er würde doch nicht … Auf Kitzeln reagierte sie so empfindlich. Vielleicht war er irgendeine Art von Fetischist. Standen nicht viele Serienmörder auf alle möglichen makaberen Sammlungen oder Rituale?
Sie bemühte sich, rational zu denken. Immerhin hatte er bisher nichts getan, außer freundlich zu ihr zu sein.
»Jillian, bitte. Wir haben keine Zeit für Spielchen. Falls ich dich hier herausschaffen soll, werde ich deine Hilfe brauchen.«
Falls?
Angesichts der zahlreichen Bedeutungen, die dieses Wörtchen beinhaltete, begann Jillians Herz zu rasen. Herrgott, ihr Puls pochte so heftig, dass er es wahrscheinlich sehen konnte. Wieso sagte er
falls?
Es musste doch
wenn
heißen.
Wenn
er sie hier herausschaffte. So hatte er es sicher auch gemeint.
»Vielleicht hörst du jetzt mal auf, dich tot zu stellen.« Er zog die Hand zurück, und sie hätte gern einen langen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, beherrschte sich jedoch. Ihr war klar, dass er nur auf irgendeine Reaktion wartete, auf einen Hinweis darauf, dass sie ihn hörte.
»Weißt du, Jillian …«
Jillian.
Als würde er sie kennen. Als wären sie Freunde.
Komm schon, erwartest du, dass er dich mit »Sie« und »Ms. Rivers« anspricht? Willst du auf Förmlichkeit bestehen, hier, allein mit ihm in einem Schneesturm?
Sie empfand es als Verletzung ihrer Intimsphäre, so als würde ihr ganzes Leben zerpflückt und studiert.
»… Du und ich, wir haben eine Menge zu tun. Wenn das Unwetter in ein paar Tagen nachlässt, wie der Wetterdienst voraussagt, dann müssen wir uns überlegen, wie wir dich hier herausbekommen, bevor das nächste loslegt.«
Er wartete ein paar Sekunden, und sie spürte seinen Blick. Dann sagte er: »Okay, mach, was du willst, aber ich kann mir vorstellen, dass dein Knöchel dir ziemlich zu schaffen macht. Ich glaube nicht, dass er gebrochen ist, wie es aussieht, ist es aber eine gehörige Zerrung. Hier in dem Röhrchen sind Tabletten. Ibuprofen. Vielleicht willst du ein paar davon nehmen.«
Dann verließ er den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Immerhin gewährte er ihr ein wenig Privatsphäre.
Oder sich selbst. Vielleicht sollst du nicht sehen, was er treibt, nicht umgekehrt.
Langsam zählte sie bis hundert. Dann bis zweihundert.
Danach schlug sie unter noch immer heftigem Herzklopfen die Augen auf. Nur einen Spalt. Um sich zu vergewissern, dass er sie nicht hereingelegt hatte. Aber sie war allein. Gott sei Dank.
Das Feuer prasselte, und sie wunderte sich über seine Freundlichkeit. War er wirklich der barmherzige Samariter, oder versuchte er lediglich, ihr Vertrauen zu gewinnen?
Aber warum?
Wenn er dir etwas antun wollte, hätte er es längst getan. Oder? Du bist nicht gefesselt, oder?
Nein, es sei denn, es zählte als Fessel, wenn ein verletzter Knöchel und ein Schneesturm einen gefangen setzten.
Konnte sie ihm vertrauen? Nein, zum Kuckuck! Zumindest jetzt noch nicht. In der Wildnis von Montana war ein Mörder auf freiem Fuß, so viel wusste sie.
Keine Panik. Ruhe bewahren.
Aber ihr Mund war trocken vor Angst. Wie standen die Chancen, dass sie in die Hände dieses Mörders geraten war?
Eins zu einer Million? So viel Pech konnte sie nicht haben. Ausgeschlossen!
Oder belog sie sich selbst?
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9. Kapitel
S ie wissen also nicht, wo sich Ihre Schwester aufhalten könnte«, vergewisserte sich Pescoli und war überzeugt, den Kürzeren gezogen zu haben, als es ihr zufiel, Dusti Bellamy anzurufen. Sie saß an ihrem Schreibtisch, konzentrierte sich auf das Gespräch, hörte kaum das Klingeln anderer Telefone, die anderen Gespräche, das unablässige Klicken von Tastaturen und nicht einmal, dass Trilby Van Droz einen augenscheinlich Betrunkenen an ihrer Büronische vorbeiführte. Pescoli
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