Der Skorpion
widmete sich voll und ganz dem Gespräch mit Jillian Rivers’ einziger Schwester. Leider, so dachte Pescoli, während sie dem Gejammer am anderen Ende der Leitung lauschte, war nur allzu klar, dass Jillian Rivers dieser Frau von Herzen gleichgültig war, ob sie nun ihre Schwester war oder nicht.
»Tut mir leid, Detective, ich würde Ihnen wirklich gern helfen, ehrlich. Und diese Sache mit Jillians schrottreifem Auto, tja, das macht mir höllische Sorgen, aber es überrascht mich im Grunde nicht. Sie war schon immer so … eine Frischluftfanatikerin. Eine Draufgängerin. Nicht ganz so schlimm wie Evil Knievel, aber sie hat alles mitgemacht, von Rodeos bis Fallschirmspringen. Und mit Chefs oder sonst jemandem, der ihr sagt, was sie zu tun hat, kommt sie nicht klar. Kein Wunder, dass ihre Ehen nicht gehalten haben. Sie ist … na ja, sie ist eben zügellos. Was Sie da sagen, ängstigt mich zu Tode, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Wir haben kein enges Verhältnis. Nie gehabt. Ich lebe in San Diego, sie in Seattle. Ich habe zwei Kinder und einen Mann. Jill ist nicht verheiratet – nun ja, im Moment nicht«, sagte sie mit der Überlegenheit einer Frau, die einen Ehemann an Land gezogen hatte und ihn festzuhalten verstand. »Und Kinder hat sie auch nicht. Wir haben nicht viel gemeinsam.«
»Verstehe«, sagte Regan, damit die Frau weitersprach. Dusti White Bellamy wirkte ein bisschen atemlos, als wäre sie den ganzen Tag lang ihren Kindern hinterhergehetzt oder als ob sie sich gerade einem Belastungs- EKG unterzogen hätte. »Wie ich schon sagte, das letzte Mal habe ich so um den zehnten November herum mit ihr gesprochen, glaube ich, als sie mich wissen ließ, dass sie Thanksgiving nicht zu uns kommen wollte. Einfach so! Ohne Angabe von Gründen, und ich habe auch nicht danach gefragt.«
»War sie mit einem Mann zusammen?«
»Vielleicht. Wahrscheinlich. Ich weiß es wirklich nicht. Sie hat nie etwas von einem neuen Mann in ihrem Leben verlauten lassen, und meine Mutter hätte es mir gesagt. So etwas kann Linnie nicht für sich behalten.«
»Hätte Jillian sich Linnette anvertraut?« Regan bezweifelte es. Sie persönlich verschwieg ihrer Mutter wie auch ihrer Tochter alles, was mit ihrem Liebesleben zusammenhing.
»Ach, wohl kaum. Meine – hm, unsere Mutter ist nicht der Typ, der mit der Meinung hinterm Berg hält. Sie ist von der alten Schule und …« Ihre Stimme verstummte kurz. »Du liebe Zeit … Ich muss Schluss machen. Mein Fünfjähriger ist beim Aquarium meines Mannes auf einen Stuhl geklettert. Reece!«, schrie sie aus vollem Halse. »Nein, nicht!«
»Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte unter …«
Krach!
»Nein!«
Der Lärm von berstendem Glas und Kindergeschrei brach mit einem resoluten Klick ab.
»Das nennt man Geschwisterliebe«, brummte Pescoli und überflog ihre Notizen. Falls Dusti White Bellamy irgendetwas über das Verschwinden ihrer Schwester wusste, wollte sie es nicht preisgeben. Ebenso verhielt es sich mit der Studentin, Jillians Nachbarin, die die Katze versorgte. Die Polizei von Seattle hatte Emily Hardy vernommen, die aber weiter nichts aussagen konnte, als dass Jillian sie gebeten hatte, die Katze zu versorgen, da sie »für einige Tage wegfahren« würde.
Pescoli las ihre Notizen sicherheitshalber noch einmal durch. Hardy hatte der Polizei Jillians Handynummer gegeben, doch als sie anriefen, hatte sich niemand gemeldet. Auch Pescoli hatte versucht, Jillian Rivers zu erreichen, doch ihr Anruf wurde gleich zur Mailbox umgeleitet.
»Eine Sackgasse«, sagte sie, ließ nervös ihren Kuli klicken und griff erneut nach dem Telefonhörer. Die Polizei von Seattle hatte bereits mit Linnette White gesprochen, doch Regan beschloss, selbst mit der Frau zu reden. Sie ließ es sechs Mal klingeln; Linnette meldete sich nicht. Also hinterließ sie ihren Namen und ihre Telefonnummer und bat die Frau um einen Rückruf. Falls der bis zum nächsten Morgen nicht erfolgt war, würde sie Jillians Mutter noch einmal anrufen.
Vielleicht schickte auch das FBI einen Agenten zu ihr. Sie sollten ja Hand in Hand mit ihnen arbeiten, und bisher waren ihnen Chandler und Halden nicht in die Quere gekommen. Die Agenten waren tatsächlich eine Hilfe; also hatte Pescoli keinen Grund, sich zu beklagen.
Noch nicht.
Sie vertiefte sich weiter in die Liste von Jillian Rivers’ Bekanntschaften. Unter den Namen von Schwester und Mutter der Vermissten war Mason Rivers aufgeführt,
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