Der Skorpion
Jillian, deine Großstadtwurzeln brechen sich Bahn.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als sie und Aaron als Rucksacktouristen unerschlossene Gegenden besuchten. Sie schliefen unter dem Sternenhimmel, wuschen sich in Bergseen, verzichteten auf allen Komfort und alle Belastungen des modernen Lebens.
Aaron. Erinnerungen an ihre Wanderungen durch die Wildnis wurden in ihr wach. Die gemäßigten Regenwälder der Olympic-Halbinsel, die Bergpfade der Cascades in Oregon; sie hatten die Bergwiesen der San Juans erforscht, abgelegene Gegenden in Colorado und den Everglades in Florida entdeckt. Doch die ultimative Reise, die sie über ein Jahr zusammen geplant, für die sie gespart und über die sie ständig geredet hatten, war das Abenteuer ihres Lebens gewesen, eine lange Rucksacktour durch die Wildnis Südamerikas, wo er verschwunden und gestorben war.
Oder auch nicht.
Jillian hielt sich an einer Tischecke fest, und eine neue Welle von Erinnerungen überrollte sie. Aaron war der Grund dafür, dass sie Seattle verlassen hatte. Jemand hatte ihr Fotos von einem Mann geschickt, der Aaron sein sollte, jemand in Missoula. Deshalb war sie in den Bergen unterwegs, als sie den Schuss hörte …
Ihre Knie zitterten, als sie sich an diesen deutlich hörbaren Büchsenknall erinnerte. Dann war ihr Reifen geplatzt, der Wagen wurde in den Abgrund katapultiert und … und
irgendwer
hatte diesen Sturz in das vereiste Bachbett
absichtlich
herbeigeführt?
Irgendwer
hatte versucht, sie umzubringen?
Warum?
Wer hatte überhaupt gewusst, dass sie in diesen Bergen unterwegs war?
Der Anrufer, du Dummkopf! Der Absender der Fotos, die angeblich Aaron zeigen. Er hat dich hierhergelockt und ist wahrscheinlich identisch mit dem Fremden, der dich »gerettet« hat. Vergiss nicht, in diesen Breiten treibt sich ein Mörder herum.
Ihr Herz klopfte immer heftiger. Sie konnte nicht weglaufen. Verletzt, wie sie war, würde sie nicht weit kommen, wenn ein Sturm in diesen Bergen tobte. Grundgütiger, sie wusste ja nicht einmal, wo genau sie sich befand. Aber irgendwo bewahrte er ihr Handy auf und etwas, was ihr half, aus dieser kleinen Hütte zu flüchten.
Bums!
Das Geräusch ließ sie vor Schreck zusammenzucken und herumwirbeln, nur um dann festzustellen, dass es vom Kamin herkam, in dem ein Holzkloben in sich zusammengefallen war. Ihr Puls raste, und sie war sich durchaus im Klaren, dass der Mann, der sie hierher verschleppt hatte, jeden Augenblick zurückkommen konnte.
Was dann? Was machst du dann?
In Panik humpelte Jillian wieder durchs Zimmer, suchte nach Steckdosen und einer Telefonbuchse.
Hilfe, sie war im Begriff, den Verstand zu verlieren.
Denk nach; Jillian, dreh nicht durch, denk einfach nach. Es muss doch eine Möglichkeit geben, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Er kann doch nicht völlig isoliert hier draußen leben, völlig abgetrennt von …
Klick!
Sie unterdrückte einen Aufschrei.
Das Geräusch eines Riegels, der zurückgezogen wurde, verursachte ihr eine Gänsehaut. Dieses Mal war es nicht das verflixte Feuer!
Er war zurück!
Das deutliche Knarren einer Tür, die geöffnet wurde, und das Poltern von Stiefeln auf dem Küchenboden drangen an ihr Ohr.
»Hierher!«
Und er war nicht allein? Ein Partner? Oder ein weiteres Opfer?
Verzweifelt sah Jillian zur Schlafzimmertür hinüber. Wenn sie diesen Raum geräuschlos durchqueren, durch die Tür schlüpfen und sich aufs Bett sinken lassen konnte, wäre es ihr möglich, sich zu tarnen, noch einmal Schlaf vorzutäuschen, aber der Weg war zu weit. Das würde sie nie schaffen. Ihre Finger krallten sich um das Heft des schmalen Messers; sie schob es sich in den Ärmel, entschlossen, es vor ihm zu verbergen. Für den Fall, dass sie es brauchte.
Die Tür zur Küche schlug zu, und sie fuhr heftig zusammen. Das Heulen des Windes verstummte.
Ganz ruhig, Jillian. Das hier ist die Rolle deines Lebens. Lass ihn nicht wissen, dass du ihm misstraust. Lass auch nicht eine Sekunde lang die Maske fallen. Welchen Unsinn auch immer er dir auftischt, gib vor, ihm zu glauben. Vielleicht unterläuft ihm dann ein Fehler …
Außer sich vor Angst drehte Jillian sich zur Küche herum und wäre dabei beinahe gestürzt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, doch sie täuschte eine Gelassenheit vor, hinter der sie hoffentlich ihre Angst verbergen konnte.
Polternde Schritte.
Aber keine zweite Stimme.
Schwere Schritte, begleitet von einem weiteren Geräusch, einem hektischen, scharrenden
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