Der Skorpion
Fotos auspacken?«
»Ich vermute, Sie haben sie schon gesehen.«
Er nickte, stritt es gar nicht erst ab, ging noch einmal zum Schrank und kam mit ihrem Koffer und den zerfetzten Resten des Quilts ihrer Großmutter zurück.
Wieder zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, und sie fragte sich, ob sie jemals wieder nach Hause kommen würde.
»Ich habe mir tatsächlich deine Sachen angesehen. Ich wollte wissen, wer du bist und wen ich anrufen sollte.«
»Sie haben ein Telefon?«
»Ein Handy. Aber es funktioniert nicht. Deines auch nicht.«
Sie zweifelte nicht an seinen Worten. Mit einer Hand öffnete sie ihre Handtasche und kramte zwischen Lippenstiften, Kulis, Brieftasche und Scheckheft nach dem Handy.
»Es wäre einfacher, wenn du das Messer loslassen würdest.«
Sie hob ruckartig den Kopf und begegnete seinem eindringlichen Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie fast sicher, dass er ihr bis auf den Grund der Seele sehen konnte. Das Messer erschien ihr plötzlich schwer und unhandlich. Sie schluckte verkrampft. Sah, dass der Hund die Augen geschlossen hatte und schlief. »Ich – hm …«
»Lass es einfach aus dem Ärmel fallen. Oder soll ich es dir wegnehmen?«
»Nein … hm …« Bedächtig legte sie das Messer auf einen kleinen zerkratzten Tisch, wo unter einer Kerosinlaterne eine Anglerzeitschrift und zwei Bücher über Astronomie lagen.
»Warum erzählst du nicht einfach alles von Anfang an?«, schlug er vor.
Wie dumm von ihr zu glauben, sie könnte ihm trauen. Und wie absolut abhängig sie von ihm war. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und schaltete es ein, in der vergeblichen Hoffnung, Empfang zu bekommen. Das Display zeigte keinen an, und der Akku war fast leer.
Wie er gesagt hatte. Sie fühlte sich verletzlicher denn je.
»Ich habe versucht anzurufen«, sagte er. »Jeden Tag. Deswegen gehe ich manchmal raus. Um zu versuchen, Empfang zu bekommen.«
Sie dachte darüber nach. Über die Zeiten, wenn sie sich allein glaubte, die Stunden, in denen er mitten im Schneesturm draußen war. Sie hatte es nicht verstehen können.
»Ich bekomme hier sowieso nur selten Empfang, und ich glaube, ein paar Funktürme sind wohl durch den Sturm beschädigt worden.«
»Toll.«
»Das hätte ich dir gleich sagen können, als du aufgewacht bist, aber ich dachte, dass du mir nicht glauben würdest.«
Da hatte er recht.
»Also«, drängte er. »Wie war das mit deinem Mann?«
Jillian seufzte. Sie sah ihn an, und die Zeit dehnte sich. Und dann beschloss sie, es einfach zu wagen, ihm alles zu erzählen. Sie begann mit ihrer Hochzeit mit Aaron, dann im Schnelldurchgang durch ihre zweite Ehe zu den merkwürdigen Nachrichten und schließlich zu den Fotos, die er natürlich aus ihrem Auto gerettet hatte, da sie in einem Fach ihrer Computertasche steckten. Während sie erzählte, hörte er zu und achtete auf das Wasser, das im Kessel auf den Kohlen heiß wurde. Er stellte mit finsterer, angespannter Miene ein paar Fragen, ließ sie aber weitgehend einfach reden.
Als sie zum Ende kam, goss er heißes Wasser über den Instantkaffee in einen Becher und fragte: »Und jetzt glaubst du, dein erster Mann, Aaron, lebt noch.«
»Ich vermute, irgendwer will, dass ich das glaube.«
»Um dich hierherzulocken?«, fragte er.
Sie trank einen Schluck Kaffee. Das heiße Gebräu rann durch ihre Kehle und brannte im Magen. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu.
»Aber der Mann auf den Fotos sieht diesem Aaron so ähnlich, dass du dich auf den Weg gemacht hast?«
»Ja, so wird es wohl sein.« Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. »Ich weiß, jetzt erscheint es mir auch irgendwie verrückt.« Sie strich sich das Haar aus den Augen. »Oder vielmehr echt verrückt.«
»War deine Ehe mit Aaron in Gefahr?«
»Nein!«, sagte sie leidenschaftlicher als beabsichtigt. »Das heißt, ich glaube nicht. Ich meine, er hatte meines Wissens keinen Grund zu verschwinden.«
»Hatte er hohe Schulden?«
»Nicht mehr, als wir bewältigen konnten.«
»Hatte er eine Lebensversicherung?«
»Ja, und es hat zwar lange gedauert, aber schließlich wurde sie mir doch ausgezahlt. Davon habe ich mir das Haus in der Stadt gekauft.« Warum um Himmels willen vertraute sie sich ihm an?
»Und bis du die Fotos gesehen hast, warst du überzeugt von seinem Tod. Er hat dich nicht wegen des Geldes verfolgt?«
»Dieser Brief und die Anrufe – sie kamen aus heiterem Himmel. Und jetzt glaube ich, die ganze Sache war vielleicht doch
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