Der Skorpion
Spitze des einen gegen die Ferse des anderen trat, dann zog er den Reißverschluss seiner Skihose herab, unter der er Jeans trug. Der hochgezogene Bund der Goretex-Hose reichte bis unter die Jacke. Jetzt sah er mindestens fünfzehn Kilo leichter aus, aber immer noch groß und kräftig genug, um ihr Angst einzuflößen.
»Du solltest dich hinlegen«, sagte MacGregor und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Den Knöchel hochlegen.«
Es stimmte schon: Ihr ganzes Bein tat ihr inzwischen weh, und es ermüdete sie, an den Tisch gelehnt an ihrer Krücke zu balancieren. Doch die Vorstellung, zurück in das Schlafzimmer zu gehen und auf der Pritsche liegend dem Heulen des Windes zu lauschen, während tausend Fragen ihr durch den Kopf wirbelten und sie sich in wilden Fantasien ausmalte, was er gerade tat, war auch nicht verlockend.
»Ich glaube, ich setze mich einfach da drüben.« Sie deutete auf den alten Sessel und den Polsterhocker. Ohne seine Antwort abzuwarten, humpelte sie zum Sessel und ließ sich hineinsinken.
»Wie wär’s, wenn ich uns etwas zu trinken hole?«
»Was denn?« Sie machte es sich bequem und hielt das Messer im Ärmel verborgen. Sie konnte sich nicht entspannen. Noch nicht.
Harley erhob sich und trottete mit klickenden Krallen hinter dem Mann her in die Küche. Im Durchgang sagte MacGregor: »Ich habe Kaffee … und …« Sie hörte ihn in den Schränken kramen, Türen öffnen und schließen. »Tja … keinen Tee … aber ein paar Päckchen Fertigsuppe. Oder Whiskey. So tief sind wir gesunken. Whiskey auf Schnee. Davon haben wir ja jede Menge. Das wäre dann eine Art alkoholische Schneewaffel.«
Sollte das ein Scherz sein? »Ich glaube, ich verzichte auf den gefrorenen Drink«, rief sie zur Küche hinüber, doch beim Gedanken an etwas zu essen knurrte ihr Magen. Wie lange hatte sie schon nichts mehr gegessen? Sie konnte sich nicht an ihre letzte Mahlzeit erinnern.
Er kam mit einer Kaffeekanne zurück und stellte sie auf die glühenden Kohlen des Feuers. »Es dauert eine Weile, bis es kocht«, erklärte er. Sein Hund drehte sich nach einem letzten bösen Blick und Knurren in Jillians Richtung ein paar Mal im Kreis und legte sich dann wieder auf seine Decke. Den schwarzweißen Kopf auf die weißen Pfoten gebettet, starrte er Jillian an.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, erinnerte MacGregor sie. »Wieso um alles in der Welt warst du in dem Schneesturm unterwegs?«
Er hängte seine Skikleidung an Pflöcke beim Kamin und wandte sich ihr zu. »Im schlimmsten Schneesturm, der seit einem Jahrzehnt über dieser Gegend niedergegangen ist?«
»Ich war auf dem Weg nach Missoula«, gab sie nach kurzem Zögern zu.
»Was ist da?«
»Nicht was. Wer. Und die Antwort lautet: mein Ex-Mann.«
MacGregor überlegte. »Vielleicht gibt es dort jemanden, der dich umbringen will.«
»Wir haben uns in gutem Einvernehmen getrennt.«
Er durchbohrte sie mit einem zweifelnden Blick. »Ja klar. Und warum riskierst du Leib und Leben und fährst im Schneesturm durch die Bitterroots, um deinen Ex zu besuchen?«
»Ich … ich musste dringend mit ihm reden.«
Seine dunklen Brauen schossen in die Höhe.
»Ein Anruf hätte nicht genügt. Ich wollte seine Reaktion sehen.«
»Wenn du ihm was sagtest?«
»Wenn ich ihn fragte, ob er mir Fotos geschickt hat, die angeblich meinen ersten Mann zeigen. Meinen
toten
ersten Mann.«
Er hockte sich auf die Fersen. »Dein zweiter Ex-Mann schickt dir Fotos von deinem toten ersten Mann?«
»Ja, na ja, das glaube ich zumindest. Ich könnte mich auch irren. Ich dachte, er wäre auf einem Wanderausflug in Südamerika ums Leben gekommen.«
»Dein erster Mann … der tot ist. Glaubst du. Aber du hast Fotos von ihm gesehen, von deinem zweiten Mann geschickt.«
»Oder es sind Fotos von jemandem, der Aarons Zwilling sein könnte.«
»Gibt es da noch einen dritten Ehemann?«
»Nein«, antwortete sie trocken. »Nur die beiden.«
»Aber jetzt glaubst du, dein Mann könnte noch am Leben sein.«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte die Fotos bei mir. Sie steckten in meiner Laptoptasche.«
Er ging zu einem Einbauschrank und entnahm ihm ihre Handtasche und die Laptoptasche, brachte beide zu ihr und stellte sie neben den Polsterhocker. Der Anblick ihrer persönlichen Habe trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Es war, als würde sie sich plötzlich vollends ihrer verzweifelten Situation bewusst, der Entfernung zwischen ihr und ihrem Leben.
MacGregor fragte: »Soll ich die
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