Der Skorpion
um ihn nicht zu reizen. »Sie haben den Schuss gehört, und dann?«
MacGregor zögerte kurz mit der Antwort, und das leise Fauchen des Feuers erfüllte das Zimmer. »Dann«, sagte er schließlich, »hörte ich die Geräusche des Unfalls, brechende Äste, sich verbiegendes Metall, Schreie.«
Ihr Hals wurde trocken. Erinnerungen an das grausige Schleudern und den Absturz des Wagens in den weißen Schlund der Schlucht schossen ihr durch den Kopf. »Ja«, sagte sie mit rauher Stimme.
Er kam näher, schloss die Lücke zwischen ihnen. »Glaubst du, dass er es auf dich abgesehen hatte?«, fragte er noch einmal. Ihre Finger umklammerten den Griff der Krücke und den des Messers. »Ich … ja, das glaube ich.«
»Und wer legt sich mitten im schlimmsten Schneesturm des Jahrzehnts mit einem Gewehr zum Zielschießen auf die Lauer?«
Sie spannte sich innerlich an. Fragte sich, ob sie mit genau dem Mann sprach, der auch auf sie gezielt hatte, dem Scharfschützen, der mit voller Absicht auf ihr Auto geschossen hatte.
»Sag mir, Jillian«, drang MacGregor in sie, war ihr jetzt so nahe, dass sie seine Körperwärme spüren, die Poren seiner Haut sehen und den grausamen Zug um seinen Mund erkennen konnte. »Was glaubst du, wer wollte dich umbringen?«
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11. Kapitel
M acGregors Frage stand zwischen ihnen im Raum, während sich der Hund, der seine feindselige Haltung endlich aufgegeben hatte, vor dem Kamin im Kreis drehte und sich dann auf einer Decke vor dem Feuer niederließ.
Jillians Herz hämmerte wie wild. Er war ihr so furchtbar nahe. Sie erwog, das Messer zu zücken, ihn auf Abstand zu halten, doch sie tat es nicht, noch nicht. Am besten behielt sie sich das Messer für den äußersten Notfall vor.
»Ich habe keine Ahnung, wer mich würde umbringen wollen«, erklärte sie.
»Nein?« MacGregor gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen, doch er wich ein paar Schritte zurück, gab ihr Raum, so dass sie wieder atmen und etwas anderes als das Hämmern ihres Herzens hören konnte. »Du hast keine Feinde?«
»Keinen, der mich würde umbringen wollen.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Aber war sie wirklich sicher? Lieber Himmel, der Mann trieb sie in den Wahnsinn.
»Jemand hat auf dich geschossen.« Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und zog sie aus, als wäre ihm jetzt erst richtig warm geworden. In der Tasche klimperte etwas. Münzen? Schlüssel? Eine Hundepfeife aus Metall?
»Oder jemand hat aufs Geratewohl auf Autos geschossen. Ich glaube nicht, dass Absicht dahintersteckte. Zumindest nicht, dass ich persönlich gemeint war.«
»Nicht?« Wieder spottete er unverhohlen, und sie empfand eine Angst, so kalt und spitz wie die Eiszapfen an der Dachrinne seiner Hütte.
Wer war er? Könnte es sein, dass er zu einem ausgeklügelten Komplott zu deiner Entführung oder gar Ermordung gehört, und bisher hat es geklappt, nicht wahr? Hastig schüttelte sie den Gedanken ab. Verschwörungstheorien hatten sie noch nie interessiert, und sie würde auch jetzt nicht damit anfangen.
Aber Aaron hatten sie interessiert.
Er war immer überzeugt gewesen, dass jemand, wahrscheinlich eine Art Regierungsagent, hinter ihm her war. Er hatte geglaubt, dass John F. Kennedy von einer Russland, Castro oder der Mafia nahestehenden Gruppe ermordet worden war, und er war überzeugt gewesen, dass D. B. Cooper, der Flugzeugentführer, der in den frühen Siebzigern im Nordwesten aus einem Flugzeug gesprungen war, Hilfe erhalten und wie durch ein Wunder irgendwie überlebt hatte. Jillian dagegen war schon immer Realistin gewesen.
Bis jetzt.
Bis ein Schneesturm sie in der Wildnis Montanas mit einem Fremden gefangen setzte. Bis sie womöglich Opfer eines Mörders an diesem eisigen Mordschauplatz wurde. Hatte dieser Mann ihren Reifen zerschossen und sie dann »gerettet«, nur um sie irgendwann umzubringen? Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht einen Blick auf seinen Gewehrschrank zu werfen, wenngleich sie gern gewusst hätte, welcherart Gewehre darin verschlossen waren.
Sie krampfte die Hände zusammen. »Sie meinen, jemand wollte mich umbringen? Ganz gezielt mich?«
»Ich weiß es nicht.« Er warf seine Jacke über die Sofalehne und bückte sich, um seine Schnürsenkel zu lösen. »Du?«
»Wie gesagt, ich habe in meinem Leben bestimmt ein paar Menschen verärgert. Meine Schwester, so viel steht fest. Aber nicht so sehr, dass mich jemand gern tot sehen wollte.« Sie sah zu, wie er einen Stiefel auszog, indem er mit der
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