Der Skorpion
Demnach war sie offenbar auf dem Weg nach Missoula gewesen und nicht von dort gekommen.
»Wissen Sie, wir sind seit zwei Jahren geschieden, und ich habe noch einmal geheiratet. Ich stehe nicht in Kontakt zu Jill und ihrer Familie.«
»Wir dachten, sie wäre vielleicht auf dem Weg zu Ihnen gewesen.«
»Wieso?«
»Das wüssten wir gern von Ihnen.«
»Hören Sie, ich habe keine Ahnung, wohin sie wollte und warum. Wie gesagt, seit dem Scheidungsspruch pflege ich keinen Kontakt mehr. Bitte, wenn das jetzt alles war – in meinem Büro wartet ein Klient.«
»Aber lassen Sie es uns wissen, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
»Da kann mir nichts mehr einfallen, Detective.« Er legte auf, und Regan hatte ein ungutes Gefühl. Sie fuhr in die Garage, betätigte die Fernbedienung, um das Tor wieder zu schließen, stieg aus und ging ins Haus, wo Cisco sie mit wildem Schwanzwedeln und begeistertem Jappen begrüßte. Ihr stand nur eine halbe Stunde zur Verfügung, dann musste sie zurück aufs Revier zu einer Freitagnachmittagskonferenz, bevor sie bis spät in die Nacht weiterarbeitete. Überstunden. Dadurch war Weihnachten in diesem Jahr gesichert.
Der Hund führte sich noch immer auf, als hätte er sein letztes bisschen Verstand verloren.
»Cisco! Ruhe!«, schrie Bianca aus ihrem Schlafzimmer. Der Fernseher plärrte im Wohnzimmer. Es lief irgendeine Realityshow, in der halbnackte Twens hochdramatische Einzelheiten über ihr Leben zum Besten gaben. Jede Menge gebräunte, straffe Haut, ein paar Piercings, zahlreiche Tattoos, das alles gewürzt mit Tränen, Gossensprache und schierer Teenie-Existenzangst und Emotionen.
»Das wahre Leben, dass ich nicht lache.« Pescoli griff nach der Fernbedienung, drosselte die Lautstärke und schaltete zu den Lokalnachrichten um.
Als die Lautstärke sich wieder im normalen Dezibelbereich bewegte, streckte Pescoli den Kopf ins Zimmer ihrer Tochter. Es war, als Bianca zehn Jahre alt war, grellpink gestrichen worden und nun mit Teenie-Postern von den heißen Typen der Boygroups und der Filmwelt tapeziert. Bianca lümmelte auf ihrem ungemachten Bett, das Handy am Ohr.
»Wo ist dein Bruder?«, fragte Regan.
Bianca reagierte sauer und formte unhörbar die Worte: »Ich telefoniere.«
»Wenn schon. Leg auf. Du kannst ja zurückrufen.«
»Was? Momentchen. Meine Mom ist gerade gekommen. Nein, schon in Ordnung …«
»Leg auf, Bianca. In zwanzig Minuten kommt dein Dad.«
Bianca bedachte ihre Mutter mit einem Blick, der sie zu erdolchen drohte, und sagte: »Hör zu, ich ruf dich zurück. … Was? … ja, genau. Die Wärterin braucht mich.« Sie legte auf und schenkte ihrer Mutter ein triumphierendes Grinsen.
»Die ›Wärterin‹ will wissen, ob du fürs Wochenende alles gepackt hast und wo dein Bruder steckt.«
»Ich bin startbereit.«
»Hast du deine Hausaufgaben eingepackt?«
»Bei Lucky brauche ich keine Hausaufgaben zu machen«, sagte sie und führte den Spitznamen ihres Vaters ins Feld, den sie seit der Scheidung nicht mehr »Daddy« nannte. »Michelle sagt …«
Pescoli riss ihrer Tochter das Handy aus der Hand. »Hey!«, protestierte Bianca, als Pescoli das Gerät zuklappte.
»Was Michelle sagt, ist mir völlig egal, was ›Lucky‹ sagt, auch. Du nimmst deine Hausaufgaben mit und erledigst sie, oder du bekommst ein echtes Problem mit der ›Wärterin‹.«
»Das habe ich sowieso schon!«, verkündete Bianca.
»Ja, ich weiß. Also, wo steckt dein Bruder?«
»Weiß nicht.«
»Sicher weißt du das. Du bist doch irgendwie nach Hause gekommen, und ich möchte wetten, den Bus hast du nicht genommen.«
»Chris hat mich nach Hause gebracht.«
»Dein Freund hat dich heimgefahren? Habe ich dir nicht gesagt, dass er in meiner Abwesenheit das Haus nicht betreten darf?«
»Er hat mich vor der Haustür abgesetzt. Na gut, ja, er ist mit reingekommen, und ich habe ihm ein Glas von Jeremys Gatorade gegeben. Also, zeig mich an, ruf die Getränkepolizei!«
»Ich bin die Polizei«, erinnerte Pescoli sie.
»Er hat mich nur nach Hause gebracht! Du solltest froh sein. Jeremy hat mich hängenlassen.«
»Weswegen?«
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch ziemlich egal. Er hat irgendwas in der Richtung gefaselt, dass Lucky nicht sein richtiger Dad ist und dass er deswegen auch nicht hinmuss.« Sie funkelte ihre Mutter böse an. »Gib mir mein Handy zurück.«
»Du bekommst es, sobald du gepackt hast, und das schließt deine Hausaufgaben mit ein.« Pescoli gab das Gerät nicht aus der
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