Der Skorpion
des Mörders zu gewinnen.
Es half ihr aber nicht weiter, die neue Karte zu studieren. Sie markierte sogar die Wohnungen von Ivor Hicks, Grace Perchant, Bob Simms und den anderen Leuten, die die Schauplätze der Verbrechen gefunden hatten.
Immer noch keine Erleuchtung.
Zeit, für diesen Tag Schluss zu machen. Vielmehr für diesen Abend.
Es war spät, schon fast einundzwanzig Uhr, und sie musste immer noch das Jeremy-Problem behandeln. Und das Nate-Problem. Sie erwog, ihn als Ersten anzurufen, entschied sich aber, sich lieber um ihren Sohn zu kümmern, bevor sie Pläne machte. Mit einer Hand griff sie nach ihrer Handtasche, wählte Jeremys Handynummer mit der anderen, wurde aber natürlich direkt zur Mailbox weitergeleitet, die zufällig leider voll war.
Sie konnte also keine Nachricht hinterlassen.
»Sehr schlau, Jeremy«, sagte sie, wohl wissend, dass ihr Sohn die Mailbox irgendwie verstopft hatte, damit seine Mutter ihn nicht erreichte. »Wirklich clever.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sagte leise: »Ach, Jeremy, du weißt nicht, was dir blüht.« Sie schaltete auf SMS -Modus und schrieb ihm eine kurze Nachricht, in der sie ihm befahl, zu Hause auf sie zu warten.
Dann meldete sie sich ab und nahm kaum die Goldbuchstaben auf einer der kahlen grünen Wände wahr. »Fröhliche Weihnachten« stand dort in der Nähe der Tür, und darunter in silbernen Buchstaben: »Frohes neues Jahr«. Die Klebefolie löste sich bereits, und die Buchstaben waren im Begriff, herunterzufallen, doch Pescoli hatte keine Zeit, hier etwas zu reparieren. Außerdem sah es so aus, als handele es sich um Joelle Fishers Versuch, »die alten tristen Räume ein wenig aufzupeppen« oder »ein bisschen Weihnachtsfreude zu verbreiten«, wie sie im vergangenen Monat wohl tausend Mal angeregt hatte. Wieso sie noch immer ungekündigt war, blieb Pescoli ein Rätsel.
Sie trat durch die Tür, ging zum Parkplatz und fand auf ihrem Jeep zehn Zentimeter Neuschnee auf Dach und Kühlerhaube. Und immer noch mehr Schnee bedeckte als frische Schicht den längst verschneiten Boden. Ja, sie lebte im Westen Montanas, aber an einen Winter wie diesen konnte sie sich nicht erinnern. Mit Hilfe ihrer Handschuhe wischte sie die Frontscheibe sauber, dann stieg sie ein.
Es war bitterkalt.
Selbst in ihrer Dienstkleidung, bestehend aus Daunenjacke und Skihose, fror sie bis in die Knochen. Sie startete, der Motor des Jeeps sprang an, und sie drehte die Heizung auf die höchste Stufe. Auf dem Weg vom Parkplatz ignorierte sie ihr plötzliches Verlangen nach einer Zigarette, wohl in erster Linie, weil sie keine Lust hatte, mit Handschuhen an den Händen eine aus der Packung zu fummeln. Das war’s nicht wert.
Als sie auf die geräumte Straße einbog, wärmte die Heizung schon, und Pescoli schaltete das Gebläse ein. Die Scheibenwischer kämpften gegen die Schneemassen, und sie fuhr hinauf in die Berge und die ländliche Gegend, in der sich ihr kleines Grundstück befand. Am Briefkasten hielt sie kurz an, um die Post zu holen, dann schaltete sie herunter, und der Jeep quälte sich die Zufahrt hinauf. Das Scheinwerferlicht ließ die Stämme einer dichten Gruppe von Kiefern und Tannen schimmern. Und Jeremys Pick-up stand vor dem Haus. Na, immerhin etwas.
Sie drückte die Taste des Garagentoröffners und fuhr hinein. Knapp eine Minute später schloss das Tor sich ächzend, und Pescoli begab sich ins Haus, wo Cisco schier aus dem Häuschen geriet und der Duft einer Fertigpizza die Küche durchzog. Jeremys Handwerkszeug – Pizzaschneider, Teller, Riesenbecher und der Pizzakarton – lag und stand verstreut auf dem mit Tomatensoßeflecken beschmierten Tresen herum.
»Hey! Jeremy! Komm sofort nach oben!«, rief sie die Treppe hinunter. Cisco verlangte nach Aufmerksamkeit, sprang aufs Sofa und auf den Polsterhocker und jaulte, bis sie den Reißverschluss ihrer Jacke öffnete und den zottigen, zappelnden Hund kraulte. »Jaja, ich hab dich auch lieb.« Ihre Stimme lag eine Oktave höher als normal. Sie schaltete den Fernseher aus und die Beleuchtung des Weihnachtsbaums ein, wobei sie feststellte, dass das zerzauste Ding mehr Wasser brauchte. »Jeremy!«, rief sie noch einmal auf dem Weg in die Küche, wo sie sein Geschirr in die Spüle stellte und einen gläsernen Messbecher mit Wasser füllte. Zweimal musste sie gehen, um den Baumständer zu füllen, und sie ignorierte die Tatsache, dass noch kein einziges Päckchen unter seinen Zweigen lag. An diesem Wochenende
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