Der Skorpion
muss auch B sagen«, redete sie sich zu, als sich wieder Skrupel meldeten, weil sie in seinen persönlichen Sachen stöberte. Die in den Stiefel gestopften Fotos waren staubig und augenscheinlich seit Monaten unberührt.
Das erste Foto zeigte ein in eine blaue Decke gewickeltes Baby. Ein Junge. Sein Sohn?
Auf dem zweiten war eine Frau in Jeans abgebildet, das lange blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, der ihr über eine Schulter hing, ein Kleinkind auf der Hüfte. Es war Sommer, die Bäume waren grün, hinter der Frau mit dem Jungen ragten in der Ferne steile Berge auf, und der Schatten, den der Fotograf warf, ließ einen sommerlichen Spätnachmittag vermuten.
Hatte er nicht gesagt, er wäre nicht verheiratet? Hätte keine Kinder? Konnte es sich um seinen Neffen handeln? Sie betrachtete die Frau und entschied, dass sie nicht seine Schwester sein konnte.
Im Herzen wusste sie, dass sie Zane MacGregors Sohn und seine Freundin oder Frau vor sich sah. Sie biss sich auf die Unterlippe und fühlte sich betrogen.
Also hat er gelogen.
Na und? Hast du wirklich geglaubt, er würde dir sein Herz ausschütten?
Beim Anblick der Frau auf dem Foto empfand sie einen leisen Stich der Eifersucht. Lächerlich! Aber wahr. Etwas in dem selbstbewussten Lächeln der Frau, in der lockeren Art, wie sie ihr Kind trug, der beinahe koketten Kopfhaltung machte deutlich, dass zwischen dieser Frau und dem Fotografen eine besondere Verbindung bestand, die sie von der restlichen Welt trennte.
Du liebe Zeit, Jillian, du machst ein Drama aus ein paar Fotos! Was geht es dich an?
Ja, was?
Sie kannte den Mann doch kaum. Warum fühlte sie sich dann trotzdem ein kleines bisschen hintergangen? MacGregor interessierte sie doch nicht die Bohne.
Jillian betrachtete den Jungen ein letztes Mal. Er hatte die gleiche Haarfarbe wie die Frau, ähnelte aber auch dem Mann, der sie aus dem Autowrack gezogen hatte.
Das glaubte sie zumindest.
Sie stopfte die Fotos zurück in ihr Versteck und setzte ihre Suche in der Küche und im Bad fort. Doch sie fand nichts Auffälliges mehr. Am Küchenfenster an der Rückseite der Hütte sah sie nur zunehmende Dunkelheit und wirbelnden Schnee.
Bewegte sich etwas unter dem schneebeladenen Ast einer Kiefer neben dem Anbau, der aussah wie ein Holzschuppen? Drückte sich eine dunkle Gestalt an den Baumstamm? Unmöglich. Ihre Fantasie gaukelte ihr etwas vor.
Oder?
Sie schluckte und versuchte, sich im Schatten zu verbergen. Sie hatte absichtlich kein Licht in die Küche mitgenommen, und trotzdem fühlte sie sich, als ob unsichtbare Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten.
Du leidest unter Paranoia,
sagte ihr der Verstand. Der Wind frischte wieder auf, pfiff durch die Dachsparren und heulte um die Hütte. Sie blickte durch die vereiste Scheibe, doch eine Bewegung war nicht mehr auszumachen. Wahrscheinlich hatte nur ein Ast im Wind geschaukelt. Sonst nichts.
Trotzdem hatte sie furchtbare Angst, und als sie ein Stampfen vor der Hütte hörte und der Hund zu bellen begann, hätte sie beinahe aufgeschrien.
»Jillian?«, dröhnte MacGregors Stimme durch die Hütte, und Jillian wusste nicht, ob sie Erleichterung oder Angst empfinden sollte.
Reiß dich zusammen,
ermahnte sie sich. »Hier bin ich.« Mit Hilfe der Krücke schleppte sie sich durch die Tür und sah, wie er seine Schnürsenkel aufknüpfte. »Und wie war’s draußen?«
»Nicht so gut.«
Ihr sank der Mut. »Ihr Sturmradar war also nicht auf dem neuesten Stand.«
Er schnaubte, schlüpfte aus seinen Stiefeln und zog seine Wintersachen aus. »Ich bin immer noch der Ansicht, dass der Sturm sich bald legt, doch an der Straße sind Bäume umgestürzt, sie sind eingeschneit und zu schwer für mich allein.« Er sah flüchtig zu ihr hinüber und erkannte offenbar ihre Enttäuschung. »Ich habe auch gehofft, dass wir bald hier rauskämen, aber ich muss mit dem Schneemobil die blockierten Straßenabschnitte aufsuchen. Dann zersäge ich die Bäume und räume sie Stück für Stück ab.« Sein Blick fand den ihren und hielt ihn fest. »Dazu brauche ich Zeit und gutes Wetter.«
»Wir könnten also auf
Monate
hier festsitzen?«
»Mit etwas Glück nicht
gar
so lange. Ein paar Tage bestimmt. Tja, vielleicht eine Woche. Aber hoffentlich nicht länger.«
»Dann kriege ich den Lagerkoller.«
»Ich auch.«
Harley tanzte um ihn herum, und MacGregor hängte seine Jacke auf und beugte sich herab, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen. »Hast du mich vermisst?«, fragte er und
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