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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Leute, dass er an jenem Abend ertrunken war. Wie konnte ein solches Geschöpf schwimmen, mit dem rechten Arm eines jungen Mannes und auf der linken Seite einem weiß gefiederten Flügel?
    Ich verstand die Trauer meiner Mutter, die Leere, die sie selbst nach so langer Zeit noch in sich tragen musste, obwohl sie nie von diesen Dingen sprach, nicht einmal mit Iubdan. Aber ich glaubte, dass sie sie mit Conor teilte, während dieser langen Zeiten des Schweigens. Ich nahm an, dass sie ihre Gabe benutzten, um einander zu stützen, als könnte ein Teilen des Schmerzes bewirken, dass sie es jeweils dem anderen ein wenig erträglicher machten.
    Der gesamte Haushalt versammelte sich zum Abendessen, wenn die Arbeit des langen Tages vorüber war, und nach dem Abendessen zum Singen und Trinken und Geschichtenerzählen. In unserer Familie gab es ein Talent zum Geschichtenerzählen, das weithin bekannt und geachtet war. Meine Mutter war dabei am besten, und ihre Gabe bestand darin, einen mit Worten vollkommen aus dieser Welt herausholen und in eine andere versetzen zu können. Aber auch wir anderen waren keine schlechten Worteschmiede. Conor war ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Selbst Liam trug hin und wieder die Geschichte eines Helden mit ausführlichen Kampfesbeschreibungen und Einzelheiten über bewaffneten und unbewaffneten Zweikampf bei. Die Männer hatten dafür sehr viel übrig. Iubdan erzählte, wie ich schon sagte, nie etwas, aber er lauschte aufmerksam. Zu solchen Zeiten erinnerten sich die Leute daran, dass er ein Brite war, aber man achtete ihn für seine Gerechtigkeit, seine Großzügigkeit und vor allem dafür, dass er so schwer arbeitete, also nahm ihm niemand seine Abstammung übel.
    Am Imbolcabend jedoch war es niemand aus unserem Haushalt, der erzählte. Meine Mutter wurde um eine Geschichte gebeten, entschuldigte sich aber.
    »In solch gelehrter Gesellschaft«, sagte sie freundlich, »muss ich das heute Abend ablehnen. Conor, wir wissen alle, wie begabt die von deiner Art für solche Aufgaben sind. Vielleicht möchtest du uns zum Brighidstag eine Geschichte erzählen?«
    Als ich sie ansah, bemerkte ich, dass sie immer noch müde war und eine Spur von Schatten unter ihren leuchtenden grünen Augen hatte. Sie war immer bleich gewesen, aber heute Abend war ihre Haut auf eine Art durchscheinend, die mir Unbehagen verursachte. Sie setzte sich neben Iubdan auf eine Bank, und ihre kleine Hand wurde von seiner großen verschlungen. Er hatte den anderen Arm um ihre Schultern gelegt, und sie lehnte sich an ihn. Wieder tauchten dieselben Worte in meinem Geist auf: Bitte, nehmt es ihnen nicht, und ich zuckte zusammen. Ich mahnte mich streng, mit diesen Dummheiten aufzuhören. Wofür hielt ich mich, für eine Seherin? Eher ein dummes kleines Mädchen!
    »Danke«, sagte Conor ernst, aber er blieb sitzen. Stattdessen schaute er quer durch den Saal und nickte knapp. Und so war es der junge Druide – jener, der am Abend zuvor die Fackel getragen hatte, mit der unsere Herdfeuer wieder entzündet wurden –, der nun vortrat und sich anschickte, uns zu unterhalten. Er war tatsächlich ein gut aussehender junger Bursche, hoch gewachsen, mit gerader Haltung und der Disziplin seines Standes; sein lockiges Haar hatte nicht das helle Rot wie das meines Vaters und meiner Schwester, sondern es war von einem dunkleren Ton, der Farbe im Herzen eines Wintersonnenuntergangs. Seine Augen waren dunkel wie reife Maulbeeren, und ihr Ausdruck war schwer zu deuten. Er hatte eine kleine Kerbe im Kinn und Grübchen, die aber selten zu sehen waren. Es ist ganz gut so, dachte ich, dass er der Bruderschaft angehört. Wenn nicht, würde sich die Hälfte der jungen Mädchen von Sevenwaters um ihn streiten. Und ich fürchtete, das würde ihm gefallen.
    »Was für eine Geschichte könnte besser für Imbolc geeignet sein«, begann der junge Druide, »als die von Aengus Óg und der schönen Caer Ibormeith? Eine Geschichte von Liebe, Geheimnis und Verwandlung. Wenn ihr erlaubt, werde ich euch heute Abend diese Geschichte erzählen.« Ich hatte erwartet, dass er nervös wäre, aber seine Stimme war stark und voller Selbstvertrauen. Ich nahm an, dass es von Jahren und Jahren intensiver Studien kam. Es braucht lange, um zu lernen, was ein Druide wissen muss, und es gibt keine Bücher, die einem dabei helfen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Liam Sorcha einen Blick zuwarf und dabei leicht die Stirn runzelte. Sie nickte kaum merklich, als wollte sie sagen:

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