Der Sohn der Schatten
häufiger innehalten und Luft holen. Vielleicht hatten meine Visionen mich geschwächt, oder mein Körper hatte sich nach der Geburt meines Sohnes nicht so erholt, wie es sein sollte. Sei stark, Liadan. Du musst stark sein. Schließlich kam ich zu den dichten Ebereschen, an denen wieder üppige Beeren hingen, und schlüpfte an ihnen vorbei unter die Weiden. Vor mir befand sich die geheime Quelle, der kleine, runde, von glatten Steinen umgebene Teich, ein Ort tiefer Ruhe. Ich löste das Tuch, das Johnny auf meinem Rücken hielt. Mein Sohn war eingeschlafen, und ich legte ihn vorsichtig auf den Farn unter den Bäumen. Er regte sich nicht. Fiacha setzte sich auf einen Ast in der Nähe.
Onkel? Ich streckte bereits den Geist nach ihm aus, während ich mich noch auf die Steine am Wasser niederließ. Ich brauche deine Hilfe.
Ich bin hier, Liadan. Und das war er; er stand auf der anderen Seite, bleich, mit wirrem, dunklem Haar und weiten Gewändern, die nicht ganz die weißen Flügelfedern bedeckten. Seine Miene war ruhig, sein Blick klar.
Onkel Liam ist tot. Gefällt von einem britischen Pfeil.
Ich weiß. Conor ist schon auf dem Weg nach Sevenwaters. Aber ich werde nicht gehen. Nicht diesmal.
Onkel. Ich hatte schreckliche Visionen. Ich habe Liams Tod gesehen und ihn nicht gewarnt, bis es zu spät war. Mein Bruder sagte … er sagte …
Ich weiß. Es ist schwer. Es gibt keine Möglichkeit, dieser Schuld zu entkommen, Tochter. Ich habe lange Jahre damit gelebt. Dein Bruder wird ebenso wie meine eigenen Brüder mit der Zeit lernen, dass der Blick nicht beherrscht werden kann. Dass solche Warnungen, wenn man sie weitergibt, zu einer viel bittereren Ernte führen können, als wenn man den Dingen ihren Lauf ließe. Dein Bruder ist jung. Mit der Zeit wird er so stark werden, wie Liam war. Vielleicht sogar stärker.
Ich nickte. Das sehe ich ebenfalls, und ich habe es ihm gesagt. Aber man hat mir eine andere Zukunft gezeigt – eine, in der Sean alt und allein war. Eine Zukunft, in der Sevenwaters leer steht, verlassen. Ich würde viel tun, um dieses Muster verändern zu können. Ich würde jene herausfordern, die unseren Weg beeinflussen, ganz gleich wie stark sie sind.
Finbar lachte leise und erschreckte mich damit. »Oh Liadan. Wäre mein Weg anders verlaufen und wäre ich mit einer Tochter gesegnet gewesen, dann hätte ich mir eine gewünscht, die so ist wie du. Forderst du nicht bei jeder Kreuzung die Wege unseres Lebens heraus? Aber nun komm, du suchst Anleitung, du suchst eine Vision, die die Wahrheit zeigt; ich sehe es in deinen Augen, und ich sehe, wie dringend es dir ist. Du hast lange geweint, und ich glaube, ich weiß, warum.«
»Meine Kerze, meine kleine Flamme in der Dunkelheit … ich konnte sie nicht entzünden, obwohl ich es immer wieder versucht habe. Und ich habe kein Wort gehört, nur schreckliches Schweigen. Und nun haben die Visionen aufgehört, und ich sehe ihn nicht mehr und höre seine Stimme nicht mehr. Und ich habe Aisling gesehen, ich habe gesehen …«
»Ich werde dir helfen. Wenn du irgendwo die Wahrheit sehen kannst, dann hier, zwischen diesen uralten Steinen. Dein Kind schläft fest. Wir haben Zeit. Komm, öffne mir deinen Geist, und wir schauen zusammen ins Wasser.«
So saßen wir auf den Steinen und spürten, dass wir sicher waren in der starken, stützenden Wärme der Hände einer Mutter. Finbar war auf einer Seite des Teichs, ich auf der anderen. Ich ließ die Schutzschilde meines Geistes gehen, und er tat dasselbe, und unsere Gedanken verschmolzen und wurden gemeinsam ruhig. Zeit verging, vielleicht lange Zeit, vielleicht auch nur wenig, und das einzige Geräusch war das Rascheln von Insekten im Gras und die Vogelrufe über unseren Köpfen und der Wind, der in den Weiden seufzte.
Die Wasseroberfläche bewegte und veränderte sich. Etwas Helles leuchtete dort, silbern im Dunkeln. Ich hielt den Atem an. Es war eine Trinkflasche, kunstfertig hergestellt. Ihre Oberfläche war mit einem komplizierten Muster verziert, der Verschluss aus Bernstein in Form einer kleinen Katze. Ein Gefäß, das ich mit dem Bemalten Mann an einem Tag von Tod und Wiedergeburt geteilt hatte. Eine Hand streckte sich nach der Flasche aus und zog den Stöpsel. Der Mann, der die Flasche an die Lippen hob, um zu trinken, war Eamonn. Der Teich wurde wieder dunkel.
Langsam atmen, Liadan. Bleib ruhig. Mein Onkel schickte mir ein Bild stillen Wassers, von Buchenblättern in der Frühlingssonne, von einem schlafenden
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