Der Sohn des Kreuzfahrers
Neuankömmlinge und hielten sie an. »Ihr da! Bleibt stehen!«
Murdo war überrascht, daß der dunkelhäutige Mann Latein gesprochen hatte. »Was habt ihr hier zu suchen?« verlangte der vorderste Wachsoldat zu wissen. Er trug eine lange Lanze mit flacher Spitze und ein Kurzschwert im Gürtel. Auch wenn es sich um einen ungewöhnlich großen Mann handelte, so war er doch dürr und wirkte kränklich; jene neben ihm sahen sogar noch weit weniger gesund aus. Murdo hatte den Eindruck, als hätte man diese Männer vom Krankenlager gezerrt und ihnen befohlen, hier Wache zu stehen.
Es war Ronan, der antwortete. »Pax vobiscum!« erklärte er wohl-wollend und hob die Hände zum priesterlichen Segen. »Seid gegrüßt im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Wir sind Pilger, mein Freund, auf dem Weg nach Jerusalem. Man hat uns gesagt, diese Stadt läge noch immer unter Belagerung, aber offensichtlich hat man sich geirrt.«
»Die Belagerung ist schon lange vorüber«, entgegnete der Soldat und musterte die Nordmänner mit müdem Mißtrauen. »Die Heere sind weitergezogen.«
»Ah, ja«, erwiderte Ronan und nickte verständnisvoll. »Wie ihr wohl selber seht, sind meine Brüder und ich Priester, und wir reisen in Begleitung von Vasallen König Magnus' von Norwegen, den wir hier zu treffen hoffen. Man hat uns gesagt, wir könnten ihn hier finden. Ich hoffe, dabei handelt es sich nicht schon wieder um einen Irrtum.«
»Ach, der«, sagte der Soldat und entspannte sich endlich ein wenig. »Der ist hier. Ihr dürft hineingehen.« Er winkte sie mit der Lanze durchs Tor.
»Du kennst ihn! Gut. Würdest du uns dann vielleicht sagen, wo wir den König finden können?« fragte Ronan hoffnungsvoll.
»Alle Fürsten sind in der Zitadelle untergebracht worden«, antwortete der Wachmann. »Mehr weiß ich nicht.«
Der alte Priester dankte dem Mann für seine Hilfe und gab ihm seinen Segen. Dann traten die Nordmänner zwischen den mächtigen, eisenbeschlagenen Torflügeln hindurch in den kühlen Schatten des riesigen Torturms.
Die Freude über die Erfrischung war jedoch nur von kurzer Dauer, denn nur wenige Sekunden später verließen sie den Schatten und betraten das glühendheiße Straßenpflaster. Die plötzlich wieder auftauchende Sonne blendete Murdo einen Augenblick lang, und er hob die Hände vor die Augen. Als er wieder richtig sehen konnte, fand er sich in der Mitte einer Straße wieder, wie er sie noch nie im Leben gesehen hatte.
So weit das Auge reichte, zierten hohe, elegante Säulen die Mitte und beide Ränder einer breiten, gut gepflegten Straße - mehr noch:
Die Säulen waren über die Straße hinweg miteinander verbunden, so daß offene, geflochtene Dächer entstanden, an denen Weinranken emporwuchsen. Was diese Errungenschaft für die Einwohner bedeutete, erkannte Murdo sofort: Die Menschen waren nicht gezwungen, wie die Tiere und Karren den sonnenüberfluteten Hauptweg zu nehmen, sondern schritten unter den schattigen Arkaden einher, welche die Straßenränder überdachten.
Diese bemerkenswerten Kolonnaden erstreckten sich vom Fluß bis in die Berge hinauf, deren hohe, weit entfernte Gipfel am Südende der Stadt zu erkennen waren. Gerade wie eine Meßlatte lief die Straße an einem zerfallenen römischen Amphitheater vorbei, an einer riesigen Basilika und an einem mit gelbem Marmor verkleideten Palast. Es gab hier so viele Kirchen, daß Murdo binnen kurzem sowohl den Überblick als auch das Interesse daran verlor und sich statt dessen an den Palmen und Blumen erfreute, die überall in irdenen Krügen wuchsen.
Immer weiter gingen sie die Straße hinauf, vorbei an leuchtend weißen Häusern mit durchbrochenen Fenstern und schweren Bronzetüren. Aus Nischen hoch in den Wänden einiger der edleren Häuser blickten Statuen ernst auf die vorbeiziehenden Nordmänner herab. Vielleicht lag es an der Hitze des Tages, aber die Neuankömmlinge hatten die Straßen fast für sich allein. Abgesehen von ein paar Wasserhändlern, die Karren mit Tonkrügen umherschoben, war niemand zu sehen. Auch in den Nebenstraßen war es ungewöhnlich ruhig, und auf einem Marktplatz, an dem sie vorüberkamen, herrschte Grabesstille.
Über der ganzen Stadt hing eine traurige Trägheit, wie ein Totenbanner über einem Grabmal. Murdo hatte sich stets ausgemalt, daß es in einer Stadt von dieser Pracht und Größe Tag und Nacht von Menschen nur so wimmeln würde; nun jedoch überraschte ihn die Leere so sehr, daß er sich fragte, was wohl die Ursache
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