Der Sohn des Kreuzfahrers
Emlyn fort.
»Und dann haben sie mit der Suche begonnen?«
»Leider nein«, antwortete der Mönch. »GrafRaimund hat ihn ignoriert. Manche Menschen haben ständig Visionen, weißt du, und unglücklicherweise ist Peter Bartholomäus einer davon. Niemand hörte ihm zu, und je mehr er auf seiner Aussage beharrte, desto weniger glaubten ihm.«
»Wie dann.?«
»Wenn du deine zügellose Zunge auch nur ein ganz klein wenig im Zaum halten könntest, werde ich es dir sagen«, unterbrach ihn der Priester tadelnd. »Wie es das Schicksal wollte, hatte zwei Nächte später ein weiterer Pilger die gleiche Vision - erst dann begannen sich die hohen Herren dafür zu interessieren. Dieser zweite Mann
- ein Kaplan mit Namen Stephan von Valence, allen Aussagen nach ein Mann von großer Frömmigkeit und Demut - beschließt eines Tages die Nacht im Gebet in Sankt Peter zu verbringen, und siehe da.! Mitten in der Nacht erscheint ihm ein unbekannter, in Weiß gekleideter Mönch. >Grabe!< fordert ihn der weiße Mönch auf. >Gra-be und finde! O ihr Männer, ist euer Glauben so klein, daß ihr nicht wißt, daß euch der Sieg gewiß ist, wenn ihr nur die heilige Lanze vor euch in den Kampf tragt?<
Wie kann er dies für sich behalten? Sofort eilt er zu seinem Fürsten und berichtet ihm, daß auch er den geheimnisvollen Priester in Weiß gesehen habe, welcher ihm erklärt habe, die Schlacht könne gewonnen werden, würden sie nur die heilige Lanze finden. Graf Raimund verlangt daraufhin zu wissen, wo sie suchen sollen. >Sucht die heilige Lanze unter der Kirche von Sankt Peter. Dort werdet ihr sie finden.< So berichtet Stephan von Valence.
Also beginnen sie zu suchen. Aber können sie sie finden? Nein, können sie nicht. Sie suchen hier und dort, in jeder Nische und in jedem Grab, und schließlich sogar unter dem Boden. Drei Tage graben und suchen sie! Einige der Fürsten geben die Suche auf - sie hatten ohnehin nicht an die Visionen geglaubt. Und selbst der fromme Raimund wird der Suche müde und sagt, sie müßten die Su-
che abbrechen, denn die Männer verlasse der Mut. Er kehrt der Grabung den Rücken zu - sie gruben gerade unmittelbar unter dem Altar - und geht zur Tür. Raimund fühlt sich nicht wohl; er leidet unter dem Fieber. Als er die Schwelle erreicht, was hört er da?
>Hier ist sie! Wir haben sie gefunden!<
Er dreht sich um und sieht Peter Bartholomäus im Loch stehen und auf seine Entdeckung deuten. Graf Hugo von Vermandois befindet sich ebenfalls vor Ort. Er springt in die Grube, und obwohl der Gegenstand noch in der Erde ruht, preßt er die Lippen auf die heilige Lanze. Dann hebt Bruder Peter den Speer empor.«
»Wie sieht die heilige Lanze aus?«
»Es ist ein römischer Speer«, antwortet der Mönch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Jene, die ihn gesehen haben, beschreiben ihn als langes, dünnes, handgeschmiedetes Stück Eisen mit einer kurzen, schmalen Spitze. Vermutlich hat er einst in einem hölzernen Schaft gesteckt, und tatsächlich fanden sich am Ende des Speers noch Reste von Holz. Doch hauptsächlich hat nur das Eisen die Zeit überlebt.«
»Wo ist er jetzt?«
»Geduld, mein Junge«, ermahnte ihn der Mönch. »Alles zu seiner Zeit. Wo war ich?«
»Sie haben den Speer emporgehoben.«
»Ah, ja. Aber mit der Entdeckung der heiligen Lanze hat sich erst die Hälfte der Vision erfüllt; nun gilt es, den Angriff vorzubereiten. Noch in derselben Nacht kommen die Fürsten zusammen und entwerfen einen Schlachtplan. Im Morgengrauen des folgenden Tages reiten sie aus dem Tor und schlagen die Seldschuken in die Flucht. Vierzigtausend sind erschlagen worden, der Rest in alle Winde verstreut. Es war ein großartiger Sieg, ganz wie er in der Vision vorhergesagt worden war.«
Emlyn schluckte; sein fettes Kinn zitterte vor Erregung. »Stell dir das doch nur einmal vor, Murdo! Der wertvollste Schatz unseres Glaubens ist wiedergefunden worden, und nun zieht er uns voran nach Jerusalem, um die Wiedereroberung der Heiligen Stadt vorzubereiten. Die Niederlage unserer Feinde steht außer Zweifel. Wir werden die heilige Lanze auf ihren rechtmäßigen Platz im Grab unseres Herrn zurücklegen. Wer hätte sich so etwas vorzustellen gewagt, als wir unsere Reise begonnen haben?«
Murdo bestätigte, daß es sich in der Tat um ein Wunder gehandelt habe. »Aber was ist mit diesen Visionen?« fragte er. »Du hast gesagt, dieser Stephan und dieser Peter Bartholomäus hätten einen in Weiß gewandeten Priester gesehen, der zu
Weitere Kostenlose Bücher