Der Sohn des Kreuzfahrers
herum hatte sich bereits eine Blutlache gebildet - aber nicht so viel Blut, dachte Murdo verbittert, wie diese Bastarde bei der Ermordung der Mutter und ihrer Kinder vergossen haben. Er bedauerte nicht, was er getan hatte. Er bedauerte nur, daß er es nicht schon früher getan hatte. Vielleicht wären die Frau und die Kinder noch am Leben, hätte er schneller gehandelt.
Doch andererseits: Vielleicht wäre er es dann gewesen, der jetzt mit einem Loch zwischen den Rippen und leeren Augen auf der Straße gelegen hätte. Ob dieses Gedankens zuckte er unwillkürlich zusammen und wandte sich ab. Dabei bemerkte er aus den Augenwinkeln heraus einen strahlenden weißen Fleck: Das Pilgerkreuz.
Jetzt wußte er auch, was der Mann von ihm gewollt hatte: Er besaß kein Pilgerkreuz. Da er überhaupt nichts bei sich trug, was ihn als Pilger auswies, hatten die Kreuzfahrer ihn für einen weiteren Ungläubigen gehalten, den es zu ermorden galt.
Murdo betrachtete den Umhang des Kreuzfahrers und das stolze weiße Kreuz, das auf die Schulter genäht worden war. Er zögerte nur einen Augenblick lang. Rasch traf er eine Entscheidung, da er fürchtete, die Kameraden des Toten könnten ihren Mut wiederfinden und jeden Augenblick wieder zurückkehren. Er bückte sich, setzte die Leiche auf und löste den Umhang von der Schulter des Toten.
Murdo zog den Umhang des toten Mannes über den Kopf. Das Ding war schweißdurchtränkt und stank. Dort, wo der Speer ein Loch gerissen hatte, war der untere Teil blutverschmiert. Mit dem Wams, das er wegen des Umhangs abgelegt hatte, versuchte Murdo, die betreffende Stelle so gut wie möglich zu säubern; dann wischte er sich die Hände ab, warf das verschmutzte Kleidungsstück weg und griff nach seinem Speer. Er blickte auf das weiße Kreuz, das nun auf seiner Schulter prangte. Nun würde ihn niemand mehr für einen Ungläubigen halten, dachte er und eilte weiter.
Die Straße beschrieb eine Biegung und stieg Richtung Tempelberg steil an. Murdo erreichte eine breite Durchfahrtsstraße und blieb stehen. Leichen blockierten den Weg. Überall lagen Leichen: Einige trugen das Weiß der Türken und Sarazenen, andere das Schwarz der Juden, alle jedoch lagen sie dicht an dicht, so daß die schwarzen Leichen die Schatten der weißen zu sein schienen.
Am anderen Ende der Straße konnte Murdo die Mauer erkennen, die den Tempelbezirk umgab und dessen großes Westtor. Das Tor stand offen. Die schweren Torflügel waren zersplittert und aus den Scharnieren gerissen. Plötzlich erscholl ein unheimliches Heulen und Schreien, das augenblicklich von dem lauten Ruf erstickt wurde: »Deus vult! Gott will es!«
Angezogen von diesen Geräuschen stolperte Murdo vorwärts und suchte sich einen Weg durch die Leichenberge. Als er das Tor erreichte, blickte er hindurch und sah dahinter einen großen Platz, gefüllt mit Pilgern, die allesamt Gottes Zorn auf die Ungläubigen herabriefen. Im Zentrum des Platzes stand ein viereckiges Gebäude mit rundem Dach, und zur Rechten konnte Murdo ein weit größeres Gebäude mit einem hohen runden Turm und einer großen goldenen Kuppel erkennen. Ein fränkisches Banner flatterte auf der Spitze der Kuppel. Das war also das Gebäude, das die Mönche die el-Aksa-Moschee genannt hatten; dann mußte es sich bei dem kleineren der beiden Bauwerke um den Felsendom handeln.
Das Heulen und Schreien kam aus dem Inneren der Moschee.
Murdo trat durchs Tor und auf den Platz hinaus. Mit jedem Schritt schlug sein Herz schneller, denn er hoffte, hier seinen Vater zu finden. Diese Hoffnung starb jedoch so schnell, wie sie geboren worden war, denn während er sich durch die Menge arbeitete, erkannte Murdo, wie sinnlos es war, hier irgend jemanden finden zu wollen. Es gab hier einfach viel zu viele Leute; überall herrschte Chaos, und es war zu laut. Selbst wenn sein Vater und seine Brüder sich hier befanden, in diesem Getümmel würde er sie niemals finden.
Als ihm diese Sinnlosigkeit bewußt wurde, geriet Murdos Entschlossenheit ins Wanken, und er blieb stehen. Benommen und verwirrt, mit den Rufen des kreischenden Mobs in den Ohren, drehte er sich um und bahnte sich einen Weg zurück - doch nur, um von einer neuen Welle Kreuzfahrer wieder nach vorne gespült zu werden. Er mußte darum kämpfen, nicht zu Boden zu stürzen, was ihm mit seinem Speer als Stütze zum Glück auch gelang, ansonsten wäre er vermutlich von der Menge zu Tode getrampelt worden.
Der Mob schien ausschließlich an der Moschee
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