Der Sohn des Kreuzfahrers
Schrecken endlich zu entkommen, floh Murdo in eine andere Straße. Aber es gab keine Rettung. Auch hier war das ausgetretene Pflaster bedeckt von stinkendem, klebendem Blut. Leichen waren ebenfalls zu sehen - Dutzende, Hunderte von Leichen. Ihre weißen und gelben Gewänder waren blutdurchtränkt und noch im-
mer feucht. Murdo blickte stur geradeaus; er weigerte sich, das Blut zur Kenntnis zu nehmen.
Aber es gab soviel davon! Wo auch immer er hinblickte, überall war Blut und immer mehr Blut - Blut in solch ungeheuren, ekelerregenden Mengen, daß er es einfach nicht ignorieren konnte, und bald sah er nichts anderes mehr als Blut: Blut, das sich auf den Straßen sammelte; Blut, das noch warm und dunkel aus den Wunden der Sterbenden quoll, und Blut, das stinkend in der Sonne verrottete.
All dieses Blut! Großer Gott, erbarme dich!
Angewidert wandte sich Murdo abermals zur Flucht. Er verdrängte alle anderen Gedanken und rannte und rannte, bis er nicht mehr rennen konnte. Als er endlich stehenblieb und sich umsah, waren die Schatten lang geworden. Er stand auf einem leeren Platz. Leichen stapelten sich an Straßenmündungen und vor Haustüren - ganze Familien, die man in ihrem eigenen Heim ermordet hatte.
Murdo preßte die Faust in die Seite und überquerte den Platz. Dabei kam er an einem Gebäude vorbei, auf dessen Dach ein sechszackiger Stern prangte. Irgend jemand hatte die Worte ISV REG-NI mit Blut über die Tür geschrieben. Die Worte ließen Murdo verwundert innehalten. Während er dort stand und die Schrift betrachtete, spürte er eine sanfte Berührung auf Gesicht und Haaren, und er blickte nach oben. Überall um ihn herum regnete Asche herab, als sei es Schnee.
Durstig, verschwitzt und der Erschöpfung nahe setzte er sich wieder in Bewegung. Je weiter er ging, desto dichter wurde der Aschenregen. Vor ihm füllte grauer Rauch die Straße, dennoch ging er weiter, und bald kam er an die qualmenden Überreste eines einst riesigen Gebäudes. Das Dach war eingefallen, und auch von den Wänden war nur wenig übriggeblieben; einige der größeren Stützbalken brannten noch immer, doch der Großteil der Flammen war bereits ausgegangen. Der Rauch stank nach verbranntem Fett; er brannte Murdo in den Augen und erzeugte einen fauligen Geschmack in seinem trockenen Mund.
Murdo fragte sich, was wohl der Grund für diesen seltsamen Rauch war; dann erkannte er, daß es sich bei dem, was er zunächst für verbranntes Holz gehalten hatte, in Wahrheit um verkohlte Leichen handelte. Mit leerem Blick starrte er auf die schwarze, ineinander verschlungene Masse verbrannter Leiber, deren Glieder vom Feuer bis zur Unkenntlichkeit verformt worden waren.
Die von den Kadavern ausgehende Hitze trocknete Murdos Haut aus, während gleichzeitig die Asche von Fleisch und Kleidung der Unglücklichen auf sein Haupt niederregnete. Noch immer nagte die Glut an den toten Knochen. Der Gestank von verbranntem Fett und Fleisch war überwältigend.
Als Murdo sich schließlich wieder abwandte, waren Augen und Lippen vollkommen ausgetrocknet. Ziellos wanderte er weiter. Der Himmel über ihm - wenn man ihn durch den Rauch denn überhaupt erkennen konnte - leuchtete rot im Licht der Abenddämmerung. Murdo fragte sich, wie es möglich war, daß die Sonne ihren Lauf einfach so fortsetzen konnte; was hier unten geschah, schien sie nicht im mindesten zu beeindrucken.
Dieser Gedanke beschäftigte ihn, bis er ein neues Viertel erreichte. Hier zierten hohe Kuppeln viele der Gebäude, auf denen wiederum große Holzkreuze angebracht waren. Offenbar hatte er eines der christlichen Viertel erreicht. Vielleicht, so hoffte er, war wenigstens dieses Viertel von den wütenden Pilgern verschont worden, und vielleicht konnte er hier sogar etwas Wasser finden. Er leckte sich über die trockenen Lippen und stolperte vorwärts.
Nach einer Weile fand er sich im Hof eines großen Hauses wieder. Neben dem Haus befand sich ein Wasserbecken, wie man es üblicherweise als Tränke für Tiere verwendete. Da er glaubte, dort einen Schluck Wasser bekommen zu können, ging Murdo darauf zu, und tatsächlich war das Becken auch bis zum Rand gefüllt - allerdings schwamm unmittelbar unter der Wasseroberfläche die Leiche eines ertränkten Kindes.
Murdo betrachtete den kleinen Leichnam, der ihn durch das Wasser hindurch anstarrte und dessen Mund ein lautloses Wort form-
te. Schwarzes Haar umrahmte das Köpfchen, und Blasen hatten sich unter dem kleinen Kinn und in den beiden
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