Der Sohn des Kreuzfahrers
Feinden besitzt, und es ist nur logisch, daß niemand ein Geheimnis verraten kann, das er nicht kennt.
Mein erstes Jahr als Neueingeweihter bestand größtenteils aus umfangreichen Studien. Ich lernte viel über die Aktivitäten unseres Ordens und die subtile Art, wie er seinen Einfluß zur Geltung brachte. Ich lernte die Überlieferungen und Lehren des Tempels kennen und einige seiner Geheimnisse. Unglücklicherweise lag es in der Natur dieser Geheimnisse, daß wir weder unsere ganze Macht nutzen noch den natürlichen Lauf der Dinge ändern konnten.
Wir konnten die mannigfachen Menschheits- und Naturkatastrophen nur beobachten; tatenlos mußten wir mit ansehen, wie sie Tod und Verwüstung über die Erde brachten. So begann ich die heldenhafte Geduld der Heiligen zu lernen. Danebenstehen und zuschauen, während die gleichen schrecklichen Fehler immer und immer wieder begangen werden - und stets auf Kosten jener, die es sich am wenigsten leisten können -, das war beinahe mehr, als ich ertragen konnte. Oft zog ich mich ob der zügellosen Unmenschlichkeit um mich herum vor der Welt zurück.
Ich schaute zu und lernte, und nach und nach meisterte ich die geheimnisvolle Geschichte unseres Ordens. Die Jahre vergingen, und Annie und Alex wuchsen heran, gingen zur Schule, und schließlich verließen sie das Nest, um eigene Familien zu gründen. Cait und ich lebten weiterhin glücklich miteinander, freuten uns auf unsere Enkelkinder, die schon bald kommen sollten, und genossen erneut das gemächliche Leben in trauter Zweisamkeit.
In der Zwischenzeit stieg ich im Orden auf, wechselte von einer unbekannten Stufe in die nächste, bis ich schließlich den sechsten Grad erreichte, von dem ich irrigerweise glaubte, er sei der letzte. Auf jedem Abschnitt dieser Reise begleiteten mich immer weniger Gefährten. Als Neuling im Mildtätigen Orden lernte ich beispielsweise, daß es mehr als siebzigtausend Mitglieder gab, in Tempeln überall auf der Welt. Bei der Aufnahme in die Bruderschaft erfuhr ich, daß nur siebenhundert weitere Brüder des ersten Grades existierten; im zweiten Grad verringerte sich diese Zahl dann auf zweihundert und so weiter und so fort.
Mit jeder Stufe, die ich auf der unsichtbaren Leiter erklomm, wurde die Zahl meiner gleichrangigen Brüder entsprechend kleiner. Als ich den sechsten Grad erreichte, waren es nicht mehr als sechzig.
Der Grund dafür ist wieder einmal der Selbstschutz. Je kleiner die Zahl der Menschen, die ein Geheimnis kennen, desto größer die Sicherheit. Bis vor drei Wochen hatte ich mir jedoch noch nicht einmal vorzustellen gewagt, welche Geheimnisse der höchste Grad barg; alles, was ich bisher kennengelernt hatte, war nicht im geringsten damit zu vergleichen. Damit will ich zum Ausdruck bringen, daß das, was ich vor wenigen Nächten im Inneren Tempel gesehen habe, die Geheimniskrämerei unserer Verbindung mehr als gerechtfertigt -und dies meine ich vollkommen ernst.
Wie dann, mögen Sie fragen, ist es möglich, daß ein Mann, der an die Gerechtigkeit seiner Sache glaubt und die äußerste Notwendigkeit anerkennt, ihre Geheimnisse zu wahren - wie ist es möglich, daß ein solcher Mann die vertraulichsten aller Informationen enthüllt? Wie ist es möglich, daß ein Mann die Geheimnisse preisgibt, die er mit seinem Leben zu schützen geschworen hat?
Gestatten Sie mir, mich zu wiederholen: Ich würde lieber tausend Tode sterben, als die Bruderschaft zu verraten oder ihre große Arbeit zu gefährden.
Warum dann dieses Dokument? Die Antwort ist die, daß ich als jüngstes Mitglied des Inneren Tempels den bemerkenswerten Methoden gegenüber besonders aufgeschlossen bin, mit denen das Wissen verbreitet wird, welches ich vor kurzem erhalten habe; daher hat man mir die Aufgabe erteilt, die Entwicklung des Ordens von seinen Anfängen bis heute aufzuschreiben.
Es gibt zwei Gründe für diese Aufgabe: Zum einen lerne ich die Mysterien schneller zu verstehen, die man mir anvertraut hat, wenn ich sie zu Papier bringe. Zum anderen hat der Innere Tempel in seiner Weisheit vorhergesehen, daß einst der Tag kommen wird, da dem, was wir nun so geheimhalten, besser gedient sein wird, wenn man es vor aller Welt verkündet. Eines Tages - so sagen sie - wird man ein Geheimnis nur bewahren können, indem man es lauthals von den Dächern schreit.
Falls Ihnen dies als lächerliches Paradox erscheinen sollte, so kann ich Ihnen nur sagen, daß die außerordentlichen Umstände, die ein solch extremes Vorgehen
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