Der Sohn des Kreuzfahrers
Jede Finte und jeder Gegenstoß in dem Kampf aus großspurigem Gehabe und Täuschungsmanövern wurde im Gedächtnis behalten und am Abend über einem Becher palästinensischen Weins besprochen. Auch Murdo lauschte den Gesprächen, doch erregten sie ihn bei weitem nicht so sehr wie seine Gefährten. Er besaß bereits ein Vermögen an Beute, und er war weder am Kreuzzug noch an dessen Führern interessiert. Die Fürsten und ihre endlosen Streitereien um Rang und Macht interessierten ihn nicht; ihm waren sie alle gleichgültig - mit einer Ausnahme: Balduin. Wann immer sein Name erwähnt wurde, rückte Murdo näher heran, um nichts zu versäumen.
Seine Brüder befanden sich bei Graf Balduin - das wußte er -, und Murdo war begierig darauf, sie so bald wie möglich wiederzusehen. Aus diesem Grund lauschte er auf alles, was gesagt wurde, und so erfuhr er auch, daß Balduin der Bruder von Herzog Gottfried von Bouillon war. Gottfried wiederum schien ein wahrhaft frommer Mensch zu sein und ein wilder Kämpfer - schließlich war er es gewesen, der als erster die Mauern Jerusalems erstürmt hatte; vor allem seiner Furchtlosigkeit war es zu verdanken, daß die Stadt so rasch gefallen war.
Sein jüngerer Bruder Balduin wurde inzwischen jedoch weit weniger geachtet, da er seinen Pilgerschwur nicht erfüllt, sondern es vorgezogen hatte, die Herrschaft über Edessa anzutreten, eine Stadt, die mehrere Tagesreisen nördlich von Jerusalem lag. Den Großteil des nächsten Tages verbrachte Murdo damit, sich zu überlegen, wie er am besten dorthin gelangen könnte, um seine Brüder zu finden, als die Nachricht eintraf, Balduin und seine Kriegsschar hätten vor den Toren der Stadt ihr Lager auf dem Ölberg aufgeschlagen. Er verschwendete keine Zeit und eilte sofort davon, um Emlyn zu suchen.
»Meine Brüder sind hier«, sagte er, nachdem er den Mönch gefunden hatte. »Ich muß sie finden.«
»Die Sonne wird bald untergehen«, erwiderte der Mönch. »Vielleicht solltest du lieber bis morgen warten.«
Murdo wollte noch nicht einmal über eine Verzögerung nachdenken. »Ich gehe jetzt«, beharrte er auf seinem Entschluß. »Wenn ich mich beeile, bin ich bei Sonnenuntergang wieder zurück.«
»Ich werde dich begleiten«, sagte Emlyn. »Aber warte wenigstens, bis ich dem König Bescheid gegeben habe.«
Emlyn eilte davon und kehrte kurz darauf mit einem Stab für sich selbst und einem Speer für Murdo wieder zurück; außerdem hatte er auch noch einen Wasserschlauch besorgt, den sie sich teilen konnten. Dann verließen sie den Palast und marschierten durch die Straßen der Stadt Richtung Jaffa-Tor. Da sie erst so spät aufgebrochen waren, hielt es Emlyn für das Beste, sich außerhalb der Mauern einen Weg zum Ölberg zu suchen, anstatt im Dunkeln durch ein Labyrinth unbekannter Straßen zu wandern. Also verließen sie Jerusalem Richtung Westen und bogen auf die Straße ein, welche die gesamte Stadt umspannte. Häufig kamen sie an Abzweigungen vorüber, die nach Bethlehem, Hebron oder zu anderen Orten führten, und immer wieder erblickten sie kleine Weiler, deren von Dornen-oder Kaktushecken umgebenen, weißgetünchten Häuser im Licht der Abendsonne leuchteten.
Die Hitze des Tages lockerte allmählich ihren Griff um das Land, obwohl im Westen die Sonne noch immer als flammend roter Ball über dem Horizont stand. Die Luft war warm und windstill und erfüllt von einem trockenen, holzigen Duft, der von den Büschen am Straßenrand zu stammen schien. Die Straße war fast vollkommen verlassen: Nur gelegentlich trafen die beiden Wanderer auf einen Arbeiter oder Bauern, die das Paar beim Anblick von Murdos Speer sofort als Franken erkannten und ihm eilig aus dem Weg gingen. Murdo und Emlyn marschierten mit der Stadtmauer zur Linken, und ihr Blick war auf die mit Olivenbäumen bepflanzten Hügel vor ihnen gerichtet. Das Licht der untergehenden Sonne verlieh den Hängen der Hügel eine purpurne Farbe, und die knorrigen Stämme der Olivenbäume wirkten blaßblau, die Blätter schwarz.
Schweigend setzten Murdo und Emlyn ihren Weg fort. Murdo dachte über die Ereignisse der vergangenen zwei Tage nach. Er dachte an die mitternächtliche Flucht zum Kloster und an seine Vision des heiligen Andreas in den Katakomben. Errichte mir ein Reich, hatte die Erscheinung verlangt. Ich werde tun, was ich kann, hatte Mur-do versprochen. Seine Wangen glühten vor Scham, als ihn die Erkenntnis niederdrückte, wie unwürdig er dieser Aufgabe war - die Last war wie
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