Der Sohn des Kreuzfahrers
Murdo im Geiste noch einmal seinen Entschluß und richtete den Blick aufs Meer hinaus.
Als sie den Kiesstrand erreichten, drehte Murdo sich noch einmal um, dankte Frau Ragnhild für ihre Fürsorge und Gastfreundschaft, die sie sowohl ihm als auch seiner Mutter erwiesen hatte, und er dankte ihr auch für die schönen neuen Kleider, die er trug - ein hübscher rotbrauner Wollumhang, eine robuste Hose aus dem gleichen Material und ein Wams aus gelbem Leinentuch sowie ein breiter Gürtel und weiche Lederstiefel. Schließlich dankte er ihr noch für das Geld, das sie ihm für die Reise gegeben hatte und versprach, es bei der nächsten Gelegenheit zurückzuzahlen.
»Es ist nicht mehr, als ich nicht auch für meine Blutsverwandten getan hätte«, erwiderte Frau Ragnhild. Die Art und Weise, wie sie das Wort >Blutsverwandte< betonte - beziehungsweise, daß sie es überhaupt verwendete - und dabei leicht vorwurfsvoll die Augenbrauen hob, verriet Murdo, daß Ragna ihrer Mutter erzählt haben mußte, was vergangene Nacht zwischen ihnen geschehen war. »Deine Mutter und ich sind mehr als Schwestern«, fuhr Ragnhild fort. »Ich freue mich über ihre Gesellschaft, und das um so mehr, da die Männer fortgezogen sind. Wir sind hier in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen. Paß du nur auf dich selbst auf, Murdo, und möge Gott dir eine rasche Rückkehr gewähren!«
Dann umarmte Murdo seine Mutter zum letztenmal, während
Ragnhild und ihre Tochter ein wenig abseits standen und den beiden zuschauten. Nachdem Niamh sich von ihrem Sohn verabschiedet hatte, trat sie beiseite und machte Ragna Platz, die Murdo sittsam auf die Wange küßte. »Komm wieder zu mir zurück, Murdo«, flüsterte sie.
»Das werde ich«, murmelte er, und er verspürte das Verlangen, sie zu umarmen und ihren willigen Leib an den seinen zu drücken.
»Gott möge dir eine rasche Rückkehr gewähren, mein Leben«, segnete ihn auch Ragna und trat von ihm weg. Bevor er etwas darauf erwidern konnte, hatte sie sich bereits wieder zu ihrer Mutter gesellt. Es gab soviel, was er ihr sagen wollte, doch das war unmöglich, solange jedermann ihnen zuschaute. Also preßte er statt dessen schweigend die Hand auf den Dolch unter dem Wams und schwor ihr im Geiste ewige Liebe. Ragna bemerkte die Geste und antwortete ihm mit den Augen.
Nachdem er noch ein weiteres Mal versprochen hatte, so rasch wie möglich wieder zurückzukehren, watete Murdo ins Meer hinaus, wo Peder an den Riemen bereits auf ihn wartete. Er kletterte über die Reling und nahm seinen Platz am Bug ein, während die beiden Diener das Boot aufs Meer hinaus drehten und es vom Ufer abstießen. Murdo rief ein letztes Mal Lebewohl, als Peder an den Riemen zog und das Boot in die Bucht hinausfuhr. Nicht einen Augenblick lang wandte er den Blick von den Gestalten am Ufer, die immer kleiner wurden, bis sie schließlich nur noch farbige Punkte inmitten der grauen Felsen der Bucht waren.
Schließlich rief ihm Peder zu, das Segel zu setzen, was Murdo auch tat. Als er sich anschließend wieder umdrehte, war die Bucht bereits hinter den Klippen verschwunden, und die Zurückgebliebenen waren nicht mehr zu sehen. Trotzdem hob Murdo noch einmal die Hand zu einem letzten Gruß, dann wandte er sich seiner Arbeit zu.
12. Januar 1899:
Edinburgh, Schottland
^ftch bin im Jahre unseres Herrn 1856 geboren worden, in der i\J kleinen, sauberen Industriestadt Witney in Oxfordshire, als Sohn von Eltern von gutem schottischem Blut. Mein Vater, der seine geliebten Highlands verlassen hatte, um unserer Familie im Wollhandel eine Existenz aufzubauen, hatte sein Geschäft schließlich auf eine solide Grundlage gestellt, engagierte einen Verwalter und kehrte wieder in den Norden zurück - in >Gottes eigenes Land<, wie er zu sagen pflegte.
So kam es, daß ich in der Mitte meines sechsten Lebensjahrs aus dem regen Treiben einer wohlhabenden Cotswold-Stadt mitsamt meiner Wurzeln herausgerissen und in eine primitive Hütte inmitten eines verregneten, farnbedeckten Hochmoors verpflanzt wurde, das -meiner damaligen Meinung nach - im abgelegensten Winkel Schottlands lag. Umgeben von Schafen und Stechginster begann ich meine Ausbildung an einer winzigen Dorfschule, wo ich meine Lehrer und Mitschüler nicht nur als ungehobelt oder geradezu als ungehörig empfand, sondern auch als unverständlich. Das erste Jahr meiner Schullaufbahn habe ich mit ständigen Weinkrämpfen verbracht, und nach jedem Tag habe ich mir geschworen, nie mehr in diese
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