Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Ebu und Ech. Sie werden bald zurückkehren. So oder so«, fügte er düster hinzu.
»Aber wir müssen hier weg, Meister Tuwin«, erwiderte Awin.
Der Schmied wirkte verunsichert. »Hast du etwas gesehen? Vorhin sagtest du nichts davon, dass …«
Awin fiel ihm ins Wort: »Spürst du nicht das Unheil, das von dieser Stadt ausgeht? Heute Nacht haben sie gegeneinander gekämpft. Ich glaube, das war erst der Anfang. Tod und Zerstörung wohnen in diesen Mauern, und sie werden bald aus den Toren kommen und das Land heimsuchen.«
»Du wirst Aryak kaum dazu bewegen können, von hier zu verschwinden, Awin, nicht, solange er keine Gewissheit über das Schicksal seiner beiden Ältesten hat. Wenn sich aber bewahrheitet, was du gesehen hast, und ich fürchte, es wird sich bewahrheiten, dann wird er erst recht nicht aufbrechen, nicht, bevor er nicht jene zur Rede gestellt hat, die dem Feind in ihrer Stadt Unterschlupf gewährten.«
Das hatte Awin nicht bedacht. Ihr Feind war von den Akkesch beschützt worden. Das konnte der Yaman - das konnte ihr Sger so nicht hinnehmen. Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht die Zeit, Rechenschaft zu fordern, Meister Tuwin!«
»Und was ist mit dem Heolin?«
Awin verstummte. Natürlich, Malk Numur hatte den Feind gedeckt. Hatte er vielleicht als Gegenleistung den Heolin bekommen?
»Ruhe dich aus, Awin«, sagte der Schmied, »du hast heute Nacht dein Meisterstück gemacht, und, mit Verlaub, das sieht man dir auch an. Man könnte meinen, ein ganzer Sger wäre über dich hinweggaloppiert. Nutze die Zeit, um dich zu erholen, aber mache dich auch bereit, diesen Ort schnell zu verlassen. Ich denke nämlich, dass du Recht hast - Unheil geht von dieser Stadt aus.« Und damit ließ ihn der Schmied stehen und ging zurück zum Lagerfeuer.
Awin seufzte. Ausruhen und vorbereiten? Er sah sich seinen Schecken an, der ihn freudig begrüßte. Er tastete Beine und Hufe ab, aber dem Tier ging es offensichtlich gut, viel besser als ihm selbst. Er seufzte. Es waren Dinge geschehen, die er nicht auf sich beruhen lassen konnte. Er hatte mit Curru zu reden. Die Sache mit den Rabenbeeren musste geklärt werden. Und er wollte mit Merege sprechen. Wenn stimmte, was Mabak sagte, hatte sie ihn davor bewahrt, lebendig begraben zu werden, aber dank Curru glaubte sie nun, er würde sie für eine Todesbotin halten. Er sah sie ein Stück abseits des Lagers, dicht hinter dem ausgetrockneten Bach, den er bisher kaum beachtet hatte. Er musste schon sehr lange trocken liegen, denn seine Ufer waren genauso karg wie die Ebene, die er einst durchströmt hatte. Kein Busch, kein dichtes Gras säumte das steinige Bett. Es standen allerdings drei vertrocknete alte Dattelpalmen jenseits seines Laufs, und genau dort hatte Merege ihr Lager aufgeschlagen.
Er ging langsam hinüber zu ihr - immer noch fühlte er sich wie zerschlagen.
»Ich grüße dich, Merege«, begann er verlegen. Wieder suchte er in ihrer Gegenwart ziemlich erfolglos die richtigen Worte.
Sie nickte ihm knapp zu.
»Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich habe gehört, dass du die Männer davon abgehalten hast, mich lebendig zu verscharren.«
»Du warst noch nicht tot«, entgegnete sie kühl.
»Ja, das weiß ich.« Er seufzte und sagte dann: »Es stimmt nicht, was Curru behauptet hat.«
»Nein?«
»Nein, ich meine, es stimmt zum Teil, denn ich habe dich schon vor vielen Tagen einmal im Traum gesehen.«
Jetzt sah Merege überrascht aus. »Mich?«
»Ja, auch wenn ich dich nicht gleich wiedererkannte, als ich dich am Knochenwasser sah. Es war eben ein Traum, unscharf - ein Mädchen, das im Schatten einer Mauer Blumen pflückt. So wie du gestern.«
»Ich verstehe. Und warum denkst du, dass der Tod aus meinen Händen kommt?«
Awin war unglücklich. Das Zeichen war eindeutig. Wie sollte er ihr das nur erklären? »Damals hat mein Meister gesagt, dass die Farbe der gepflückten Blumen entscheidet, ob das Mädchen ein Fest oder eine Trauerfeier angekündigt. Und du hast roten Mohn gepflückt.«
»Diese Blume wächst bei uns nicht«, erklärte sie ruhig, »ebenso wenig wie diese Bäume hier. Auch die habe ich hier zum ersten Mal gesehen. Tuwin hat mir erklärt, dass man ihre Früchte essen kann, stimmt das?«
»Wie? Ja, Datteln kann man essen.« Awin hatte den Faden verloren. Sie schien nicht wissen zu wollen, was es mit den Blumen
auf sich hatte. Er erklärte es ihr trotzdem. »Roter Klatschmohn steht für Blut, Merege.«
»Das habe ich verstanden«, lautete die
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