Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
ohne Zauberkraft erbaut, und wenn ich diese Ziegel befühle, spüre ich, dass sie nicht lange stehen wird. Sie mag den Hakul widerstehen, aber Regen und Wind werden sie zersetzen. In drei- oder vierhundert Jahren wird sie zu Staub zerfallen sein.«
Awin starrte sie an. Sie sprach von Jahrhunderten, als seien es Wochen. Und noch etwas weckte sein Interesse: »Das Skroltor, was ist das?«, fragte er vorsichtig.
»Es ist das Tor, das die Alfskrols von dieser Welt fernhält.«
»Das … Du … du hast es gesehen?«, fragte er ungläubig.
Sie sah ihn erstaunt an. »Natürlich, mein Volk lebt im Schatten dieses Tores. Was ist? Ist dir nicht gut?«
Awin hielt sich an seinem Schecken fest. Er vermochte nicht zu glauben, was er da hörte. Schließlich sagte er: »Deine Großmutter hat mir von diesem Tor erzählt, aber ich dachte, sie wollte mir nur Angst machen.«
Merege zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollte sie das. Aber Senis ist nicht meine Großmutter.«
Awin hörte kaum, was sie sagte. War das wirklich möglich, dass es da ein Tor gab, hinter dem die Daimonen und Riesen hausten? Senis hatte das behauptet, und er hatte es für ein Ammenmärchen gehalten, eine Geschichte, wie so viele über Daimonen und Götter erzählt werden. Und jetzt behauptete Merege, dass ihr Volk dort lebte. Er starrte auf ihre schmalen Schultern. Vielleicht hatte sie sich abgewandt, damit er nicht merkte, wie sie ihn auslachte. Natürlich, das war ein Scherz. Sie wollte ihn nur ins Bockshorn jagen. Ein Tor für Daimonen?
Eine lächerliche Vorstellung. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Für einen Augenblick war er wirklich auf sie hereingefallen. Sein Schecke schnaubte, und er fragte sich, ob dieses Tier sich auch über ihn lustig machte. Merege war unterdessen in die Hocke gegangen. Sie schien am Fuß der Mauer etwas entdeckt zu haben. Awin stand urplötzlich das Bild aus seinem Traum wieder vor Augen: Das Mädchen, das an der Mauer Blumen pflückt. Er erbleichte. Curru hatte ihm damals erklärt, dass dieses Zeichen auf eine Feier hindeutete. Da Awin aber die Farbe der Blüten nicht hatte erkennen können, war unklar geblieben, ob es ein Freudenfest oder eine Trauerfeier werden würde. Gebannt starrte er auf ihren Rücken. Das Haar fiel zur Seite, und er konnte ihren Nacken sehen. Wie hell ihre Haut doch war! Sie erhob sich, drehte sich um und lächelte, zum zweiten Mal, seit er sie kannte. Sie hielt blutroten Klatschmohn in den Händen.
»Was ist mit dir? Du siehst aus, als seist du einem Gespenst begegnet«, meinte Tuwin, als Awin mit Merege ins Lager zurückgekehrt war.
»Es ist nichts«, behauptete Awin, »nur diese Mauer ist bedrückend.«
»Das ist sie, mein Junge, das ist sie wirklich«, antwortete der Schmied. Offensichtlich war er erleichtert, dass der junge Seher keine neuen Schreckensmeldungen für ihn hatte. Dann traten Eri und Tauru an ihn heran. Die beiden Jungkrieger schlugen vor, von irgendeinem der Höfe eine Ziege oder ein Schaf für das Abendessen zu besorgen, aber Tuwin verbot es ihnen.
»Wir haben Salz und könnten es bezahlen«, meinte Tauru.
»Und wenn sie es nicht verkaufen, nehmen wir es eben so«, rief Eri.
»Ich glaube nicht, dass dein Vater erfreut wäre, das zu hören«,
lehnte Tuwin den Vorschlag noch einmal ab, und Awin sah, wie beleidigt der Knabe schon wieder war.
Awin suchte nach Mewe. Er wollte wissen, was in der vorigen Nacht vorgefallen war und warum der Schmied und nicht der Jäger den Sger führte. Er fand ihn ein Stück abseits vom Lager, wo er gerade dabei war, seinen Dolch mit einem Stück Leder zu säubern. Es war eine wundervolle Waffe, noch von Tuwins Vater geschmiedet und mit machtvollen Zaubersprüchen versehen. Nie würde sie zerbrechen, und jedes Leben, das sie nahm, würde ihren Besitzer stärker machen. Awin fragte sich, ob er wohl selbst jemals einen solchen Dolch besitzen würde. Bisher hatte er bei zwei Beutezügen jede Gelegenheit verpasst, sich diese Waffe zu verdienen.
»Was führt dich zu mir, Awin, Kawets Sohn?«, fragte der Jäger, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
»Ich habe Fragen, Meister Mewe.«
»Dann solltest du sie auch stellen, es sei denn, es geht um die Frage, warum der Yaman heute so entschieden hat, wie er entschieden hat. Denn dies solltest du ihn selbst fragen. Ich werde es dir nicht erklären.«
Awin seufzte. »Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es etwas mit mir zu tun hat, Meister Mewe.«
Der Jäger sah kurz von seiner Arbeit auf.
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