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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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diese Menschen an nur einem Ort blieben, sich plagten und mühten und nicht wie seinesgleichen frei über das weite Land zogen. Jetzt verstand er es. Niemand hier würde Männer und Jungkrieger auf Beutezüge tief ins Feindesland schicken, und trotzdem würde hier niemand in den langen Wintermonden Hunger leiden müssen. Ein Ausruf des Erstaunens riss ihn aus diesen Gedanken. Er löste seinen Blick von den reichen Feldern und schaute nach vorne. Und da lag endlich die Stadt vor ihm. Sie war groß, viel größer sogar als die Rote Festung, viel größer, als er sie sich vorgestellt hatte. Hunderte und aberhunderte von Menschen mussten innerhalb ihrer Mauern leben. Awin konnte sich nicht satt sehen. Die vielen wuchtigen Türme, die lange, gerade Mauer und dort das mächtige, dunkle Tor. War das das Tor, das er in seinem Traum gesehen und für eine grüne Höhle gehalten hatte? Auch die anderen Jungkrieger staunten über die ungeheure Größe von Serkesch. Das Gelände fiel zur Stadt hin leicht ab, und so konnten sie sehen, dass hinter den hohen Mauern unzählige Häuser aneinandergedrängt waren.
    »Was ist das dort oben auf dem Hügel?«, fragte Mabak und deutete auf einen Stadtteil, der durch einen tiefen Graben von der eigentlichen Stadt getrennt war. Eine steinerne Brücke spannte sich über die Kluft.
    »Das ist der Tempelberg, mein Sohn«, erklärte Bale. »Seine
Mauern sind aus Stein, nicht aus gebranntem Lehm. Und das riesige Gebäude dort ist das Bet Raik, das Haus ihres Fürsten.«
    »Er allein bewohnt dieses Haus?«
    Bale lachte. »Nein, es wohnen dort hunderte Sklaven und Krieger. Und siehst du die helle Mauer dahinter? Die das Bet Raik noch überragt? Das ist die Spitze ihres Stufentempels, in dem sie die Hüter verehren.«
    »Was ist das dort unten am Fluss?«, wollte Tauru, der Bognersohn, wissen.
    »Das ist der Hafen der Stadt, von einem Wassergraben und hohen Mauern geschützt«, erklärte Bale, der wieder ernst wurde. »Es ist lange her, dass ich diese Mauern gesehen habe. Mein Vater ist dort an jenem Graben gefallen, und sein Opfer war umsonst, denn wir konnten selbst diesen kleinen Teil der Stadt nicht einnehmen.«
    Schwacher Hörnerklang wehte herüber. Offenbar hatte Mewe das Tor erreicht. Awin konnte ihn sehen: eine kleine Gestalt vor einer gewaltigen Mauer. Der Yaman ließ sie zur Schlachtreihe ausschwärmen. Dann warteten sie auf eine Antwort aus der Stadt. Es dauerte eine Weile, und Awin hatte Zeit, sich die Stadt genauer anzusehen. Es war unfassbar, wie groß sie war. Hatten die Hakul wirklich einst versucht, diese Mauern zu überwinden? Sie mussten sehr tapfer gewesen sein. Die Ebene vor der Stadt war leer und staubig, kein Feld war dort angelegt, kein Graben wässerte den trockenen Boden. Auch unten am glitzernden Fluss war beiderseits des Hafens nur nackte Erde zu sehen.
    Der Dhanis kam von Westen und schlug genau hier bei der Stadt einen weiten Bogen nach Süden. An beiden Ufern lagen reiche Felder. Aber immer noch konnte Awin keine Menschenseele erblicken, und auch der Strom lag verlassen. Kein Schiff befuhr ihn, kein Fischer warf seine Netze aus. Es lag eine
gespenstische Stille über allem. Was hielt die Menschen nur in ihren Häusern? Wurden sie von einer Seuche heimgesucht? Aber wo waren dann die Scheiterhaufen? Stammte der Rauch, den sie an dem vorigen Tagen gesehen hatten, etwa daher? Awin konnte sich das nicht vorstellen. Das alles ergab keinen Sinn, aber er spürte etwas bedrückend Unheilvolles, das von diesem Ort ausging. Er hätte es nicht in Worte fassen können, aber er spürte, dass die Ruhe über der Stadt trügerisch war. So, als würden all die Menschen, die sich in ihren Häusern versteckten, auf ein unausweichliches Verhängnis warten. Er war froh, als er sah, dass Mewe seine Antwort bekommen hatte und zu ihnen zurückkehrte. Auf halber Strecke hielt er an und gab ihnen einen Wink. Der Yaman hob den Arm, und dann setzte sich ihre Schlachtreihe in Bewegung. Sie ritten im Schritt, betont würdevoll, die Sgerlanze und die Speere der Yamanoi blitzten im Sonnenlicht. Merege folgte ihnen mit den beiden Packpferden. So hielten sie auf die Stadt zu, achtzehn Krieger und ein Mädchen, die einzigen Menschen, die sich auf dieser Ebene bewegten. Sie durchquerten ein ausgetrocknetes Bachbett, das aussah, als habe es seit Jahrzehnten kein Wasser mehr gesehen, und ritten bis auf Pfeilschussweite an die Mauer heran. Mewe erwartete sie dort. Awin sah, dass das riesige Tor mit

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