Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
er: »Es ist gut, dass du die Frage mir und nicht meinen Kriegern stellst. Sie würden sonst vielleicht beginnen, darüber nachzudenken, ob wir das Richtige tun. Die Göttin ist an unserem Lager vorübergezogen, warum also den Streit mit ihr suchen? Nun, du bist jung und kannst dich nicht an die Zeit vor Horket erinnern. Auch früher stritten die Klans, schlimmer als heute, aber wenn der Feind von außen kam, dann hielten wir zusammen. Vielleicht ist das heute anders, vielleicht ist es aber auch nur an der Zeit, dass diese Erinnerung wieder geweckt wird.«
Awin lag eine Bemerkung auf der Zunge, darüber, wie heftig Harmin bei ihrem letzten Zusammentreffen mit seinem Yaman gestritten hatte, und das im Beisein Außenstehender. Aber er schluckte die Bemerkung hinunter. Damals hatte Harmin Yaman Auryd gehasst, weil er den Platz einnahm, den er sich für Harbod, seinen Sohn, gewünscht hatte. Jetzt war Harbod tot, und Harmin hatte sich verändert. Also sagte Awin: »Ich dachte, Heredhan Horket hätte viele Streitigkeiten unter den Hakul geschlichtet?«
»Beerdigt hat er sie, unter einer schweren Decke aus Verpflichtung, Sühne und Unterwerfung. Früher wurde jeder Zwist offen ausgetragen unter Kriegern, heute schwelt es
unter der Oberfläche, und jeder fürchtet, dass mit dem ersten Blutstropfen der Heredhan erscheint, um den einen Klan zu unterwerfen und den anderen an sich zu binden. Mir scheint es manchmal, dass Horket mit dem Streit auch unseren Mut erstickt hat. Und ich bin hier, um zu sehen, ob der alte Kampfgeist nicht doch noch lebt, so wie der Funke noch im Heolin glimmt und hoffentlich bald zur strahlenden Flamme wächst.«
Awin betrachtete den Lichtstein nachdenklich. Er schien wirklich stärker zu werden, doch war sein Licht immer noch viel schwächer als in Uos Mund. Awin bezweifelte, dass bereits genug Kraft in ihm wohnte, um eine Göttin herauszufordern. Oder doch? Vielleicht würde er es schon bald wissen.
Gegen Abend erreichten sie endlich den Dhurys, und sie schlugen ihr Lager an seinem Ufer auf. Der Strom war viel breiter, als Awin gedacht hatte, drei oder vier Pfeilschüsse, wie Tuge schätzte. Sein Ufer war mit einem Eispanzer bedeckt, doch in der Mitte strömte das Wasser grau und schnell nach Süden. Slahan war hier gewesen, das war unübersehbar. Eine feine gelbe Schicht lag über dem Gras, und einige der am Ufer stehenden Weiden hatten Windbruch erlitten.
»Also stimmt es, sie will über den Fluss, und solange sie nicht hinüberkann, folgt sie ihm nach Süden«, stellte Tuge fest, als sie sich um ihr Feuer sammelten. Wenn sie am Tag auch gemeinsam ritten, so waren die Hakul doch froh, wenn am Abend jeder Klan sein eigenes Feuer entzünden konnte.
»Kein guter Weg«, meinte Curru grimmig.
»Es leben viele Hakul am Dhurys«, pflichtete ihm der junge Mabak bei.
Awin wusste, dass Curru das nicht gemeint hatte. Der Weg würde sie mitten durch Horkets Weideland führen. Auch Tuge hatte das begriffen. »Der Heredhan hat seine Sühne von uns
genommen. Er hat nicht das Recht, mehr zu fordern«, meinte der Bogner nachdenklich.
»Da hat er aber noch geglaubt, Yaman Eri sei tot«, brummte Curru.
»Ich denke, er hat nun andere Sorgen«, sagte Eri. »Wenn wir Glück haben, tut die Göttin uns sogar einen Gefallen und nimmt den Unersättlichen mit.«
»Darauf können wir uns leider nicht verlassen«, erklärte der alte Seher düster.
Eine Weile starrten sie schweigend ins Feuer. Awin betrachtete gedankenverloren den Lichtstein. Der Funke war zu einem schwachen, geheimnisvollen Glanz angewachsen. Er fragte sich, ob er irgendwann wieder so heiß werden würde wie damals, als Etys ihn geraubt und der Stein ihm die Hand verbrannt hatte. Und er fragte sich, ob stimmte, was Merege behauptete, dass der erste Fürst der Hakul den Heolin nicht von Edhils Sonnenwagen, sondern vom schwarzen Daimonentor gestohlen hatte. Es war schwer zu glauben, dass der herrliche Etys so etwas getan haben sollte, aber warum sollte die Kariwa lügen?
Unvermittelt richtete der alte Seher das Wort an Merege: »Sag, Kariwa, bist du sicher, dass Slahan über den Fluss will?«
»Die Wölfe sind es«, entgegnete Merege knapp.
»Die Wölfe, die Wölfe«, wiederholte Curru missmutig.
»Wir könnten ihr den Weg abschneiden«, meinte Tuge plötzlich und fügte, als er die fragenden Blicke sah, hinzu: »Es mag ja sein, dass sie keine Flüsse überqueren kann, aber wir können es. Lasst sie dem Strom bis zur Wüste Dhaud folgen, wir
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