Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
finde, du hast ein Recht darauf, es zu erfahren, denn schließlich spielte dein Vater darin auch eine Rolle, was Horket nie vergessen hat. Es ist bald fünfzehn Jahre her, als Heredhan Lepi viel zu früh starb. Horket war damals ein junger Yaman, aber er hatte durch List und Entschlossenheit - manche sagen, Grausamkeit - bereits zwei Klans unterworfen und einige weitere durch Verpflichtungen an sich und seinen Klan des Schwarzen Grases gebunden, der, das solltest du wissen, vor Horkets Zeit völlig unbedeutend war. Nun versammelten sich also die Yamane im Ahnental, um einen Nachfolger zu bestimmen. Lepi hatte einen Sohn, und eigentlich war es guter alter Brauch, dass
der Sohn dem Vater nachfolgte. Heredhan war immer nur ein Titel mit viel Ehre und wenig Macht gewesen. Doch plötzlich stand Horket auf und verlangte das Amt für sich.«
»Aber mit welcher Berechtigung?«, fragte Awin.
»Das ist eine gute Frage, Awin, eine sehr gute sogar. Horket begründete seinen Anspruch nicht selbst, sondern ließ einen Fremden für sich sprechen.«
»Einen Fremden? Im Ahnental?«
»Ja, ist es nicht seltsam, dass die Yamane nicht sofort den Kopf dieses Mannes forderten? Dein Vater Kawet tat es, doch er blieb der Einzige. Der Fremde also sprach für Yaman Horket, und je länger er redete, desto begründeter erschien der Anspruch. Und das Eigentümliche daran war, dass später, als Horket wieder von dem Schild stieg, auf den ihn die Versammlung der Yamane nahezu einmütig gehoben hatte, niemand mehr wusste, was der Fremde eigentlich gesagt und wie er sie bewogen hatte, gegen alle guten Sitten Horket zum Heredhan zu machen. Nun, vielleicht ahnst du schon, was damals keiner wahrhaben wollte - der Fremde war ein Maghai …«
»Ein Zauberer? Horket ist durch Zauberei auf den Schild gelangt?«, rief Awin ungläubig.
»Awin, der Regen fällt nicht so dicht, dass er jedes Wort verschluckt, also dämpfe deine Stimme«, raunte der Bogner.
»Verzeih«, murmelte Awin und blickte sich vorsichtig um. Die Männer hatten ihre Kapuzen über die Helme gezogen, hingen müde auf ihren Pferden, und nichts deutete darauf hin, dass ihnen jemand zuhörte. Ein Maghai hatte Horket also zur Macht verholfen? Das war wirklich eine Neuigkeit.
»Zuerst wusste das niemand«, setzte Tuge seine Erzählung fort, »niemand außer deinem Vater, der die Täuschungen des Zauberers durchschaute. Man sagt, dass die Macht der Maghai darin liegt, andere das sehen zu lassen, was sie sie sehen lassen
wollen. Wenn einer dieser dhanischen Zauberer dich deinen Tod sehen lässt - dann stirbst du. Kawet hat später versucht, Horket zu stürzen, aber du kannst dir vielleicht vorstellen, dass nur wenige Yamane ihm folgen wollten. Lieber nahmen sie das Unrecht hin, als zuzugeben, dass sie sich hatten betrügen lassen. Der Heredhan war erhoben, also musste es auch Tengwils Wille sein. So einfach war das. Und außerdem - es war nur der Heredhan, ein altes Amt mit viel Würde, vielen Verpflichtungen, aber wenig Macht. Nur dein Vater sah voraus, was Horket daraus machen würde, und tat alles, um ihn aufzuhalten.«
Awin biss sich betroffen auf die Lippen. Daher rührte also der Hass, den Horket gegen Kawets Klan hegte. »Ich verstehe eines nicht, Tuge. Ich weiß, die Zauberer schützten einst die Dhanier vor allen Feinden. Aber ich habe noch nie gehört, dass einer von ihnen sich in die Angelegenheiten der Hakul einmischte.«
»Dieser tat es«, meinte Tuge knapp, »aber natürlich nicht umsonst. Man sagt, Horket habe ihm seine Lieblingstochter zur Frau geben müssen.«
»Augenblick - Maghai nehmen doch keine Frauen!«
»Nun, dieser schien vieles anders zu sehen als die anderen Diener seiner verfluchten Bruderschaft. Ich kann mir vorstellen, dass Horket hoffte, diesen mächtigen Verbündeten durch seine Tochter dauerhaft an sich zu binden, wie es guter Brauch bei den Hakul ist. Blut ist bekanntlich dicker als Wasser und eine Ehe stärker als ein Sgerzeichen aus Eisen, wie man so sagt.«
»Aber der Maghai verschwand?«
»Und Horkets Tochter mit ihm. Vermutlich hatte der Zauberer, was er wollte. Und das war ein Segen, denn sonst wären wohl längst alle Hakul unter Horkets harte Hand geraten. Aber auch so sind ihm viele Sippen hörig.«
»Wir nicht«, sagte Awin.
»Bislang«, meinte Tuge trocken.
»Das wird sich auch nicht ändern«, verkündete Awin mit grimmiger Entschlossenheit.
»Ich wünschte, ich könnte deine Zuversicht teilen, Awin«, entgegnete Tuge.
Awin spürte,
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