Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
hinab zu Kluwe und lauschte. Er hatte Awins Anschuldigung vernommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Awin fragte sich, wie viele Geheimnisse dieser Gehilfe wohl schon gehört haben musste. Er war jung, zwar älter als Awin, aber sicher noch keine zwanzig Winter alt. Er war die Stimme Kluwes, die einzige Verbindung des Sehers zur Außenwelt, und er trug diese große Verantwortung offensichtlich mit Selbstbewusstsein und Gelassenheit. Jetzt gab er die Worte seines Meisters wieder: »Ich kann nicht aufhalten, was nicht aufzuhalten ist. Ein weiser Seher sollte das wissen, Sehersohn. Bist du gekommen, um mich anzuklagen? Ich hatte deinen Vater gewarnt. Doch hat er meinen Rat in den Wind geschlagen.«
Anklagen? Nein, Awin war nicht gekommen, um alte Geschichten zu klären, auch wenn er dazu noch viele Fragen an den Alten hätte. Er musste wissen, was die Zukunft brachte. Awin gestand sich ein, dass er besser darüber hätte nachdenken sollen, was er Kluwe eigentlich fragen wollte. Jetzt stand er da, im Angesicht einer Legende, und suchte nach den richtigen Worten. »Sagen dir die Zeichen, ob ich Erfolg haben werde, Meister Kluwe? Wird es mir gelingen, Slahan zu besiegen?«
Wieder flüsterte Kluwe seinem Gehilfen eine Antwort ins Ohr. Awin begann sich zu fragen, wie es eigentlich kam, dass der Seher offensichtlich noch viel besser hören als sprechen
konnte. War es bei den Alten sonst nicht so, dass sie allmählich taub wurden, aber dafür umso lauter krähten?
»Dein Pfad ist schmal und gefährlich wie eines Messers Schneide, junger Seher. Selbst wenn es gut geht, werden viele sterben. Und nur wenn du siehst, wirst du den Weg überhaupt finden können.«
Awins Mut sank. Nur wenn er sah? Der Alte wusste also, dass er die Gabe verloren hatte. »Doch wie kann ich wieder sehen, Meister?«
»Er ist eingeschlafen«, lautete die Antwort des Gehilfen, aber Awin sah es schon selbst. Das Kinn war dem Alten auf die Brust gesunken. Awin fluchte innerlich. Nichts hatte er erreicht. Weder hatte er erfahren, was Curru hier gesucht hatte, noch, was ihm die Zukunft bringen würde. Er war sich sicher, dass der Alte viel mehr sah, als er gesagt hatte. Er griff nach seinem Stab und verharrte. Der alte Seher war nicht der Einzige, der wusste, was Curru hierhergetrieben hatte. Er drehte sich um. »Sag, junger Krieger, wie ist dein Name?«
»Ich bin Kluwes Stimme.«
»Und einen Namen hast du nicht?«
Der Gehilfe lächelte, statt zu antworten.
»Sag, Kluwes Stimme, mein ehemaliger Meister war gestern hier: Was hat er gewollt?«
Das Lächeln wurde noch freundlicher, und der Krieger antwortete: »Glaubst du im Ernst, Kluwes Stimme würde aussprechen, was Kluwe nicht sagen will?«
Awin nickte verdrossen. Natürlich hatte er das nicht erwartet. Der Gehilfe rechtfertigte leider das Vertrauen, das sein Meister in ihn setzte. »Ich halte dich nicht für einen Seher, junger Krieger«, sagte Awin, als er schon am Ausgang war.
»Das bin ich auch nicht, doch auch ein Krieger kann viel von diesem Weisen lernen, vielleicht mehr als ein Seher, der blind geworden ist.«
Bei den Zelten ihres Sgers war die Stimmung schlecht. Awin erfuhr den Grund, als er Harmin über den Weg lief: »Es ist Sache des Heredhans, für ausreichend Nahrung zu sorgen, und wenigstens für die Anführer der Klans sollten doch wohl Rundzelte bereitstehen. Doch an beidem herrscht großer Mangel, wie es scheint«, rief der Schmied ungehalten.
»Unsere Vorräte werden doch noch einige Tage reichen, oder?«, fragte Awin.
»Darum geht es nicht, junger Seher. Es geht um die heiligen Pflichten eines Heredhans. Er sollte nicht zu viele verletzen, wenn er sich noch weiter so nennen will.«
Yaman Werek hatte ihn gehört. »Es wird nicht helfen, wenn du hier lauthals deine Unzufriedenheit verkündest, Schmied. Es sind Zeiten der Not, und es ist eine große Leistung Horkets, dass er uns überhaupt hier zusammenbringt.«
»Es ist kein Kunststück, Yaman Werek, Gäste zu einem Mahl zu rufen. Aber dann sollte doch wenigstens die Tafel gedeckt sein«, gab Harmin nun zurück.
»Liegt dir nur daran, dir den Bauch vollzuschlagen, Schmied? Wir sind nicht hier, um die Sonnenwende zu feiern«, entgegnete Werek verärgert.
»Und dennoch, wenn Horket unsere Achtung erwartet, sollte er auch uns Achtung entgegenbringen.«
Plötzlich lächelte Werek herablassend.
»Ich hörte, dass am Glutrücken, vor gar nicht langer Zeit, Männer deines Klans die Gastfreundschaft Horkets ausgeschlagen
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