Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
vielleicht auch. Also sei auf der Hut. Wenn er dich zu fassen bekommt, kann er dich mitnehmen in sein verlassenes Reich.«
»Aber wie hast du das Zeichen … ich meine, mein Körper war doch hier, und nur mein Geist war …«, begann Awin.
Norgis lächelte. »Ich werde dir nicht alle Geheimnisse meiner Kunst enthüllen, junger Seher.«
Norgis wirkte jetzt, im Licht des neuen Morgens, beinahe harmlos. Aber wenn er näher hinsah, bemerkte er ihre tief liegenden gelben Augen und die Spinnen, die über ihren bemoosten Mantel krochen. Er durfte nicht vergessen, wie mächtig und gefährlich sie war. »Ich habe die Xaima gesehen, ehrwürdige Kariwa«, stieß er hervor.
»Ihre wahre Gestalt?«, fragte Norgis.
Awin nickte. »Du würdest sie kaum wiedererkennen, Merege«, erklärte er dann. »Sie sind abgemagert, kraftlos. Auch die stolze Isparra wirkt … schwach.«
»Ich warne dich, Sterblicher, du solltest mich nicht reizen!«, hauchte Isparras Stimme aus dem Nichts.
Norgis lachte. »Ich fühle, dass du mir aus dem Weg gehst,
Windskrole, und fast ertrunken wärst du doch in der Flut. Weit kann es mit deiner Macht also nicht mehr her sein.«
Awin wartete auf eine scharfe Antwort Isparras, aber sie unterblieb. Zögernd fuhr er mit seiner Erklärung fort: »Jedes Mal, wenn sie ihre Zauberkraft einsetzen, werden sie schwächer, Merege. Der alte Blohetan war weiser, als ich dachte, denn er hat geahnt, was wir nicht sahen: dass sie sich wirklich verzehren, um Eri ans Ziel zu führen.«
»Sie werden also schwächer«, wiederholte Merege nachdenklich.
»Du siehst, es besteht kein Grund, den Mut sinken zu lassen, Ahntochter«, erklärte Norgis.
»Noch einmal verbiete ich dir, mich so zu nennen, Norgis aus den Sümpfen«, stieß Merege zornig hervor.
Norgis lächelte auf eine gleichzeitig überhebliche und doch auch traurige Art. »Hat dir meine Schwester denn nie erzählt, dass nur meine Kinder die besonderen Begabungen erbten, die uns geschenkt worden waren? Alle, die als Wächter über das Skroltor wachen, sind meines Blutes, also auch du, Merege Eistochter.«
»Du lügst!«, zischte Merege.
»Warum sollte ich?«, sagte Norgis einfach und betrachtete ihre angebliche Ahntochter mit Anteilnahme. Dann wandte sie sich an Awin: »Sag, Seher, wie findest du das? Meine eigenen Kindeskinder waren es, die mich verurteilt und vielleicht sogar getötet hätten, wenn ich nicht vorher gegangen wäre. Und noch heute, nach Jahrhunderten, würden sie mich gerne tot sehen.«
Mereges rechte Hand lag auf dem Schwertgriff, die Knöchel verfärbten sich weiß. Noch nie hatte Awin sie so aufgebracht gesehen.
»Senis«, stieß er schnell hervor. »Ich habe sie getroffen!«
Einen Augenblick lang schien es, als würden die beiden Kariwa ihn nicht hören, denn sie starrten unverwandt einander an, als ob jeden Augenblick ein Unglück geschehen könne. Doch dann senkte Norgis den Blick. »Also hat sie ihr Kraut nicht gefunden?«, fragte sie.
Awin schüttelte den Kopf.
»Was hat sie gesagt?«, wollte Merege wissen.
Awin versuchte, sich an die genauen Worte zu erinnern. Er hatte so viel gesehen, und die Erinnerungen verblichen schon. »Sie wird uns helfen, doch sah ich sie nur kurz und konnte ihr nur sagen, was die Xaima vorhaben.«
»Siehst du, Ahntochter, ein weiteres Zeichen der Hoffnung. Und du wolltest schon verzagen!«, rief Norgis.
»Wie will sie uns helfen, Awin?«, fragte Merege, ohne auf ihre Vorfahrin zu achten.
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie ihre Suche nach dem Todeskraut aufgibt. Ich traf sie weit im Süden«, fügte er umständlich hinzu. »Noch weit südlich des Schlangenmeeres.«
»So weit fort?«, fragte Merege betroffen.
Awin nickte. »Aber sie kann doch schneller reisen als der Wind. Ich erinnere mich, dass sie euch doch samt eures Wagens ans Rotwasser zauberte.«
»Schnell reisen kann sie«, erwiderte Merege nachdenklich, »doch der Zauber ist nicht einfach. Er verlangt Zeit und starke Opfer, wenn er weit tragen soll. Selbst Senis wird Tage, vielleicht Wochen brauchen, bis sie das Schneeland erreicht.«
Awin schluckte. Er war davon ausgegangen, dass Senis im Handumdrehen überall auftauchen konnte, gerade, wie es ihr beliebte. »Aber wir haben Norgis auf unserer Seite«, sagte er dann unsicher.
»Wir werden sie nicht brauchen!«, stieß Merege wütend hervor.
»Und sie wird euch nicht helfen«, zischte Norgis. Dann wandte sie sich an Awin und sagte beinahe freundlich: »Nein, Seher, dies ist
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