Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
nicht mein Kampf, und die Kariwa sind nicht mehr mein Volk. Siehst du nicht, dass mein eigen Fleisch und Blut nach dem Schwert greift, um ein uraltes Urteil zu vollstrecken? Abtrünnig nennen sie mich, töten wollen sie mich, aber nicht um irgendeines Gesetzes willen, wie sie behaupten, nein, sondern weil ich ihnen ihre eigene dunkle Seite offenbare, die Seite, die sie gerne vor der Welt verstecken. Alle Wächter können mit Leichtigkeit einen Menschen töten. Meine Ahntochter hat es doch selbst schon getan! Ich kann das fremde Leben und die Kraft an ihr riechen, die sie nahm. Es macht sie stark, und sie könnten noch viel stärker werden, wenn sie meinem Weg folgten, ja, sie könnten sogar einen Daimon bezwingen. Aber die Dunkelheit, die sie über diesem Weg sehen, die erschreckt sie, die fürchten sie, und deshalb fürchten sie mich und wollen mich töten. Und deshalb werde ich meinen Kindern nicht helfen, junger Seher.«
»Aber du musst uns helfen. Du kannst mich in das Land der Kariwa bringen. Du musst doch mit niemandem …«
Aber Norgis schnitt Awin brüsk das Wort ab. »Gar nichts muss ich! Ich habe für dich die Grenze meines Reiches überschritten, Hakul, obwohl ich meine neuen Kinder nur ungern alleine lasse. Weiter will und werde ich nicht gehen, und geholfen habe ich dir doch wohl genug, oder hast du das schon wieder vergessen, Seher?«
Awin schüttelte den Kopf. »Ich werde das nie vergessen, und … und … ich werde mit den Kariwa reden, wenn du das willst.«
Norgis starrte Awin einen Augenblick lang an, dann lachte
sie schallend. »Der junge Mensch will sich für Norgis ins Zeug legen? Nimm lieber Abstand davon, denn du legst dich da mit einer Macht an, so alt wie das Skroltor.«
Awin wurde rot, doch nicht aus Scham, sondern vor Zorn. Er sagte: »Das ist für mich nichts Neues, ehrwürdige Norgis. Ganz im Gegenteil. Seit vielen Monden schon kämpfe ich gegen solche alten Mächte - Mächte, die im Reich der Sterblichen schon lange nichts mehr verloren haben!«
Norgis warf ihm einen belustigten Blick zu. »Dann sorge dafür, dass nicht noch weit ältere und viel gefährlichere Mächte hinzukommen.«
Das Wasser fiel nun immer schneller, aber Awin blieb noch Zeit zu frühstücken. Er hatte das Gefühl, einen ganzen Ochsen verspeisen zu können, aber dann war er doch früher satt, als er dachte.
»Ich meine, dafür, dass du tagelang nichts gegessen und getrunken hast, wirkst du nicht so ausgehungert, wie man erwarten könnte«, meinte auch Wela, die ihm beim Essen zusah.
Awin zuckte mit den Schultern. »Wisst ihr eigentlich, wie weit Eri uns noch voraus ist?«
Wela schüttelte den Kopf. »Drei oder vier Tage vielleicht. Wir wissen es nicht. Aber die Kariwa meint, sie kenne einen Weg, ihn vielleicht zu überholen.«
»Mir scheint, du redest viel freundlicher von ihr als früher«, merkte Awin kauend an.
Die Schmiedin seufzte. »Ich kann nicht behaupten, dass ich sie ins Herz geschlossen hätte, aber sie hat uns gut geführt, das muss ich anerkennen. Nach Karno waren wir mutlos und verzagt, aber Merege hat uns angetrieben. Überhaupt, je weiter wir nach Norden kommen, desto mehr scheint sie aufzutauen. Und selbst Isparra bringt ihr Achtung entgegen.«
Awin nickte. Er hatte mit der Windskrole zu reden, doch das konnte noch bis nach dem Frühstück warten. »Hat Merege gesagt, was für ein Weg das sein soll?«, fragte er.
»Nein, sie meinte nur, er würde nicht jedem von uns gefallen. Und ich glaube, sie hat Spaß daran, uns ein wenig im Ungewissen zu lassen. Insofern erinnert sie mich an dich, Awin Sehersohn.«
»An mich?«, fragte er verwundert.
Wela grinste breit. »Sag bloß, es fällt dir nicht einmal mehr auf, dass du uns stets mit dunklen Andeutungen und halben Geheimnissen hinhältst.«
»Ich sage euch immer, was ich weiß, sobald ich mir dessen sicher bin«, verteidigte sich Awin.
»Natürlich«, meinte Wela grinsend, »aber jetzt solltest du dich beeilen. Das Meer zieht sich schnell zurück, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Sie hörten plötzlich Hufschlag und aufgeregte Rufe. Als sie aus der verbrannten Tür traten, sahen sie Isparra, die auf ihrem Pferd nach Westen galoppierte. Wasser spritzte unter den Hufen hoch auf, denn noch war das Meer nicht ganz gewichen. Awin unterdrückte einen Fluch und rief die Männer zu den Pferden. Augenblicke später saßen sie schon im Sattel. Norgis blieb jedoch zurück, denn sie hielt an ihrer Entscheidung fest, ins Nebelland
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