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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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hatte anders als auf Miechowitas Hauswand keine auffälligen Kleiderattribute als Vorlage gehabt, um Friedrich von Rechberg zu porträtieren. Also hatte er der Figur, die er auf die Wand gekritzelt hatte, einen Wappenschild mit den Landshuter Helmen umgehängt. Der Mann an der Wand hatte den Mund unnatürlich weit aufgerissen und die Arme hocherhoben. Er war nackt. In seinem After steckte ein Spieß, der oben an seinem Kopf wieder austrat und in einer Spitze auslief, an der ein Schriftzug baumelte. Er war ironischerweise in deutscher Sprache geschrieben.
    »Den Inhalt des Fäkalieneimers wollten sie offenbar an die Wand schütten, in den offenen Mund hinein«, sagte Friedrich, als ginge ihn das alles nichts an. »Ein aufwendiges Kunstwerk.«
    »Ja«, sagte ich. Ich starrte das Wort an. Ich ahnte, dass eine Rückkehr zur Normalität wirklich nicht mehr möglich war.
    Verrecke .
    »Gehen wir mal ans Saubermachen«, seufzte Friedrich und schlurfte in sein Haus hinein.

    In der Höhe des Dominikanerklosters begannen mich immer mehr Menschen auf meinem Heimweg zu überholen. Als die Glocke des Rathausturms zu läuten begann, blieb ich einen Augenblick lang stehen, gestoßen und geschubst von denen, die sich von mir behindert fühlten. Mein Körper vibrierte im Rhythmus des Glockenschlags, und es war nicht nur die Hektik des Geschehens vor Friedrich von Rechbergs Tor daran schuld. Es war lächerlich – aber erst hier wurde mir klar, dass ich mir nicht nur ebenso sehr wie Friedrich gewünscht hatte, eine Wiederkehr der normalen Zustände wäre möglich; sondern dass ich es auch mit der gleichen Intensität wie er gehofft hatte. Idiot, dachte ich, du solltest es wirklich besser wissen. Ich setzte mich wiederin Bewegung, aber schon nach wenigen Schritten sah ich mir selbst dabei zu, wie ich immer schneller ausschritt und immer weiter ins Gedrängel geriet und schließlich, kaum dass ich das Kloster hinter mir gelassen hatte, rannte wie alle anderen um mich herum auch.
    Die Menge staute sich diesmal nicht bei der Kleinen Waage, sondern unter dem Rathausturm. In ihrem vorderen Bereich sah ich gereckte Fäuste rhythmisch in die Luft stoßen und vernahm einen abgehackten Choral, der sich zwischen den gellenden Glockentönen dumpf und bösartig anhörte. Der leere Galgen ragte aus der Menge und begann leicht zu beben, als die Ersten sich an den Stempeln emporzogen. Ich fühlte mich schwindlig vom schnellen Laufen und von der Gleichartigkeit der Szene zu gestern. Unwillkürlich hielt ich nach Julius Avellino Ausschau, obwohl ich es besser wusste. Die Wiederholung schien zu sagen, dass es keinen Ausweg gab, dass die Stadt und ihre Bewohner in einer Abwärtsspirale gefangen waren, die sie unerbittlich auf ein Niveau hinabzog, in dessen Finsternis brennende Häuser und menschliche Fackeln auf Scheiterhaufen die einzige Beleuchtung darstellten.
    Immer mehr Menschen nahmen den Choral auf; immer mehr Fäuste stießen in die Luft. Jetzt waren die Stimmen laut genug, um sich über das Geläut durchzusetzen.
    »Gebt-ihn-frei! Gebt-ihn-frei!«
    Die Fenster des Rathausturms waren fest geschlossen. Keiner der Räte hatte den Mut, sich an einem von ihnen zu zeigen oder gar vor die Meute zu treten. Ich fragte mich, wie sich der Gesang wohl von drinnen anhören mochte. Verteidiger, die eine Festung hielten, vor der draußen der Kampfeslärm tobte, mochten ein ähnlich dumpfes Grölen vernehmen.
    »Gebt-ihn- frei !«
    Und dann: »Avellino-Avellino- avellino !«
    »Genau so musste es kommen«, sagte ich und bemerkte erst, dass ich laut gesprochen hatte, als sich ein paar Leute in meinerNähe umdrehten. Ich starrte sie an, und sie wandten sich wieder ab. Im nächsten Augenblick kam die Hysterie in unserer unmittelbaren Nachbarschaft an, Fäuste wurden emporgerissen, »Gebt-ihn- frei ! Gebt-ihn- frei !«, und auch diejenigen, die mich eben noch gemustert hatten, fielen in das Schreien mit ein. Ich machte, dass ich verschwand.
    Ich hatte Recht gehabt mit dem, was ich bei Friedrich gesagt hatte; nicht, dass es mir nicht lieber gewesen wäre, komplett danebenzuliegen. Mit seiner Schweigetaktik hatte der Rat den Mob seinen eigenen Gedanken überlassen; und diese hatten zwischen dem Eingreifen der Reiterei gestern und dem Verschwinden Avellinos seit heute Morgen den logischen Schluss gezogen: dass der Rat mit dem Verschwinden des Predigers zu tun hatte.
    » gebt-ihn-frei !«
    Gestern hatte die Möglichkeit bestanden, dass die Meute aus Hysterie das

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