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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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wussten genau, was hier vor sich ging, und waren heilfroh, ungeschoren davongekommen zu sein. Sie waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte; als sie an mir vorüberschlichen, erkannte ich einen von ihnen: einen mäßig erfolgreichen Händler aus der Umgebung des Florianstors – ein Deutscher. Offensichtlich hatte er das Polnische genügend beherrscht, um die von ihrer Kraft besoffenen jungen Burschen zu täuschen.
    »Glück gehabt«, sagte ich laut.
    Der Händler sah mich an. Seine Lider zuckten. »Machen Sie lieber, dass Sie hier wegkommen«, sagte er. Sein Begleiter schien ein Pole zu sein; er blickte weder nach links noch nach rechts und schämte sich offenbar für seine Feigheit.
    »Helfen Sie mir, die Kerle in die Schranken zu weisen.«
    Der Händler schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückt«, erklärte er und ging schleunigst weiter.
    Ich wandte mich von ihm ab und begegnete den Blicken der Studenten. So wie die Krähen ahnen, wenn ein verirrtes Tier stirbt, so ahnten diese speziellen Krähen der Gewalt, dass der heiß ersehnte Ärger sich daranmachte, zu ihnen zu kommen. Ich ballte die Fäuste. In einem Augenblick fuhr ein Wirbel an Gefühlen durch mein Hirn: Sorge, dass diese Geschichte tödlich enden konnte, Angst vor den Konsequenzen für mich (Schmerzen? Eine ernste Verletzung? Tod?), der heillose Wunsch, Köpfe zusammenzuschlagen und mit den Füßen zu treten, wenn die Besitzer der Köpfe zu Boden gingen. Es fehlte nicht viel, und ich wäre brüllend und mit den Fäusten fuchtelnd mitten unter sie gestürmt. Ich fühlte Atemnot, so zornig war ich. Als ich Friedrich von Rechberg beigesprungen war, hatte ich es eher aus einem Reflex heraus getan; jetzt hatte ich beinahe das Bedürfnis , es zu tun, aus dem Verlangen heraus, ein Zeichen setzen zu müssen, und gleichzeitig wissend, dass Gewalt das absolut falsche Mittel dafür war. Aber was war das Mittel? Gegen ein paar grinsende Kraftprotze, die sich anmaßten, einen alten Mann auf die Probe zu stellen, ob er Pole oder Deutscher war, und ihn lachend quälten? Gegen die Feigheit der Entkommenen? Gegen die Hysterie, die sich schlimmer verbreitete als die Pest und zweimal so schnell? Schlagend und tretend dreinzufahren und so viele Zähne wie möglich einzuschlagen, bevor sie mich kriegten?
    Wahrscheinlich nicht …
    Aber was für eine Wahl hatte ich sonst?
    All diese Gedanken und Gefühle jagten während eines Lidschlagsdurch meinen Kopf, und als sie wieder draußen waren, stellte ich fest, dass ich mich nicht von der Stelle bewegt hatte. Ich öffnete den Mund, um den Studenten irgendeine Schmähung zuzurufen (der größte Teil von Peter Bernward lechzte geradezu danach, sie daraufhin angreifen zu sehen, während ein ganz kleiner Teil rief, der Teil, den jeder von uns in sich trägt und den der deutsche Händler zu laut hatte werden lassen: Halt dich raus und hau ab!), da nahm mir jemand die Initiative aus der Hand.

    »Vater!«
    Paolo.
    Er rannte durch die Leute, das Gesicht glühend vor Eifer und ganz offensichtlich vollkommen blind und taub demgegenüber, was sich vor seiner Nase abspielte.
    »Vater!«
    Ich sah die Bewegung durch die Gruppe der Studenten gehen, ein Windstoß durch Korn. Sie starrten den Jungen an, der auf mich zusprang.
    »Vater, was ich gesehen habe …«
    Sie begannen zu grinsen. Die Ersten wandten sich wieder zu mir um; diejenigen, die erkannt hatten, dass ich das Ziel der pumpenden Beine, schwingenden Arme und der wild hüpfenden Mütze war.
    »… Daniel hat es mir gezeigt!«
    Natürlich schrie Paolo auf Deutsch.
    »Sieh mal einer an«, hörte ich einen der Studenten sagen.
    Ich hätte ein paar Sekunden vorher eingreifen sollen, dann wäre wenigstens ich der Angreifer gewesen – und nicht sie.

    Sie fingen Paolo ab, noch bevor ich zu ihm gelangen konnte. Der bucklige Alte, plötzlich aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit entlassen, schaute sich verstört um. Er stand immer noch da, als ich zu meinem kleinen Sohn hinübergesprungen war, absolutratlos, was mit ihm geschehen war und was nun weiter mit ihm geschehen sollte. Ich sah ihn einige Zeit später langsam in die Gasse zum Weichseltor hineinschlottern; für den Augenblick war seine Verwirrung zu groß, als dass er sich in Sicherheit hätte bringen können.
    Paolo rannte in einen der jungen Männer hinein. Dieser packte ihn, hob ihn hoch und setzte ihn dann wieder ab; aber da war ich schon heran. Entweder der Feigling in mir oder die Stimme der Vernunft, die in meinem

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