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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Rathaus stürmte; heute bestand die ungleich größere Chance, dass sie es tat, um ihr Idol zu befreien.
    » avellino !«
    Irgendwo dort vorn stand wahrscheinlich Langnase und sorgte dafür, dass der Takt des Chorals erhalten blieb; ich hoffte voll hilfloser Wut, dass er den Geschmack des Pferdeapfels noch immer auf der Zunge hatte. Die Menge war so angeschwollen, dass sie die schmalere Südwestseite des Marktplatzes vollkommen verstopfte; und aus den Gassen, die vom Weichseltor und vom Franziskanerkloster herführten, kamen immer noch mehr Menschen. Ich drückte mich an den Hausmauern entlang und versuchte, zur Sankt-Anna-Gasse zu gelangen. Als ich nach oben spähte, sah ich genau in die entsetzten Augen eines älteren Mannes, der die ganze Szene aus dem Obergeschoss seines Hauses betrachtete, grau im Gesicht. Wie lange hatte er wohl gekämpft, gelitten, gerechnet, gefeilscht, gehandelt und seine Geschäftspartner übers Ohr gehauen, bis ihm das Haus in dieser begehrten Lage endlich gehörte – und wie sehr wünschte er sich wohl jetzt, irgendwo in einer der hinteren Gassen zu wohnen,wo die Gefahr nicht so groß war, dass der aufgestachelte Mob zur Haustür hereinstürmte und alles kurz und klein schlug? Ich hatte weder Trost noch Zuspruch für ihn; ich wandte mich ab und schob mich zwischen schreienden, hüpfenden und fäusteschüttelnden Gestalten hindurch, die Mündung der Sankt-Anna-Gasse schon im Blick.
    Sie wurde von einer Reihe junger Männer mit Studentenmänteln und -kappen blockiert. Einen irrsinnigen Moment lang dachte ich, ihre geschlagenen Kameraden hätten sie um Hilfe gebeten, und sie suchten nach mir – doch sie suchten nur nach Streit. Wie es aussah, hatten sie ihn auch gefunden: Sie standen um einen buckligen weißhaarigen Mann herum und schrien abwechselnd auf ihn ein. Wenn er sich dem Schreier zu seiner Rechten zugewandt hatte, begann einer hinter ihm zu krakeelen; sobald er sich umdrehte, grölte einer vorne, und wenn er darauf zu reagieren versuchte, begann einer zur Linken zu pöbeln. Es war das verbale Pendant zum Hin- und Herstoßen zwischen mehreren Paar Fäusten und um nichts weniger als dieses ein Spießrutenlauf. Dass sie ihn (noch) nicht körperlich bedrängten, mochte an Respekt vor seinem Alter liegen, aber eher daran, dass sie den Mut dafür erst noch finden mussten.
    »Gebt-ihn-frei!«, tobte die Menge vor dem Rathausturm.
    »He, Alterchen!«, schrie einer der Studenten auf polnisch, »wie heißt deine Tochter?«
    »Deine Enkeltochter!«, brüllte ein anderer, und der Alte taumelte hilflos zwischen den beiden Schreiern hin und her. Die Meute lachte wie verrückt.
    »Margarete?«
    »Barbara?«
    »Roswitha?«
    Die deutschen Namen rollten guttural in ihren Mündern. Das Gesicht des alten Mannes war verzerrt. Er verstand nicht, was ihm widerfuhr.
    » a-v-e-l-l-i-n-o !«, skandierte der Mob. »Gebt-ihn- frei !«
    Ich stand keine zehn Schritte von der Szene entfernt und spürte den bleiernen Geschmack hilfloser Wut im Mund. Jemand hätte schon längst eingreifen und den alten Mann retten sollen … ich hätte schon längst eingreifen sollen. Ich wusste, dass es nur noch ein bisschen mehr Geschreis bedurfte, und ich würde eingreifen; diesmal ohne die Rückendeckung durch den Säcklergehilfen, diesmal nicht gegen überraschte Schmierfinken, sondern gegen Schläger, die genau darauf warteten, dass sich jemand mit ihnen anlegte. Einer der Studenten drehte sich plötzlich um und machte zwei schnelle Schritte in die Sankt-Anna-Gasse hinein, seine Kumpane öffneten ihren Kreis, um nachzusehen, was er tat, und während der Alte seine Chance nicht nutzte, sondern stattdessen erschöpft und verwirrt zwischen ihnen stehen blieb, sah ich, dass zwei halbwegs fein gekleidete Männer in meinem Alter den Burschen in die Hände gefallen waren. Ich konnte nicht hören, was über den Lärm hinweg geschrien wurde, aber die beiden Männer machten große Augen und hoben abwehrend die Hände und formten unschuldige runde O mit ihren Mündern. Ihre Blicke zuckten zwischen den Studenten und dem alten Mann in ihrer Mitte hin und her. Einer der Studenten machte eine einladende Handbewegung, um sie vorbeizulassen, und als sie der Einladung folgten, fand es ein anderer lustig, einem der beiden einen saftigen Tritt in den Hintern zu geben. Seine Freunde bogen sich vor Lachen; die zwei Männer bogen sich mit, am heftigsten der, dessen Hintern den Stiefelabdruck trug. Sie wichen den Blicken des alten Mannes aus; sie

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