Der Sohn des Verräters - 21
„Vancof behauptet es, und damit müssen wir uns für den Moment begnügen.“ „Verstehe. Na, das ist allerdings eine Neuigkeit“, räumte er so huldvoll ein wie er konnte. Als er weiter nichts mehr sagte, rutschte sein Gegenüber auf dem Stuhl umher, als versuchte er Lyles Stimmung einzuschätzen.
Nach einer Minute des Schweigens fragte Granfell: „Was ist das eigentlich für eine Unordnung hier? Ich habe in all den Jahren, die Sie bei uns sind, noch nie so viele Papiere auf Ihrem Schreibtisch gesehen.“ Lyle beäugte ihn mit kaum verhüllter Abneigung. Granfells Ton grenzte an Unverschämtheit. Dann verwarf er dieses Gefühl – das war eben Granfells Art. „Das sind sämtliche Nachrichten, die ich in den letzten sechsunddreißig Stunden verschickt habe – das regionale Hauptquartier scheint … verschwunden zu sein.“ Granfell wurde schlagartig hellwach. „Gibt es ein Problem mit der Relaisstation?“ „Ich weiß es nicht. Unser Sender scheint einwandfrei zu funktionieren, aber was ich auch rausschicke, es kommt postwendend zurück.“ Er musste nicht hinzufügen, dass der Sender auf Cottman IV nach den Maßstäben der Föderation veraltet war, dass überhaupt die gesamte Ausrüstung des Hauptquartiers seit zehn oder gar zwanzig Jahren in Betrieb war, ohne dass etwas erneuert worden wäre. Zum Glück funktionierte das meiste noch, aber in letzter Zeit hatten sie immer wieder dieses oder jenes Gerät ausschlachten müssen, um ein anderes am Laufen zu halten – alles wegen der Sparmaßnahmen, die sich in der Föderation ausgebreitet hatten.
„Das ist ernst, Lyle.“ „Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst“, antwortete Belfontaine so kühl wie möglich. „Es verleiht Ihren Befürchtungen, man könnte uns hier zurücklassen, eine völlig neue Dimension.“ „Richtig. Und ich glaube, wir sollten …“ Miles geriet ins Stocken, und er ließ den Blick langsam durch das Büro schweifen. „Das macht jegliche Planung sehr schwierig“, sagte er schließlich.
Belfontaine sah ihn zunächst verständnislos an, doch dann begriff er: Granfell wollte etwas sagen, das auf keinen Fall mitgehört oder aufgezeichnet werden sollte. Selbst die Möglichkeit, man könnte sie auf Cottman sitzen lassen, statt abzuziehen, änderte nichts an seiner Angst, für einen Widersacher der Föderation gehalten zu werden. Es gab automatische Geräte in den Wänden des Raums, die alles mithörten und auf die er keinen Einfluss hatte, obwohl er zu den Sicherheitskräften zählte. Wenn Lyle gekonnt hätte, hätte er die Lauscher längst abgestellt. Und nur weil es zurzeit keinen Kontakt mit der Föderation gab, musste das nicht so bleiben. Sie mussten weiterhin vorsichtig zu Werke gehen.
„Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich drei Tage lang gesoffen. Machen wir einen Spaziergang und überlegen dabei, welche Möglichkeiten wir haben“, antwortete Belfontaine nach einer Weile.
„Ein Kater ohne das Vergnügen des Rausches, meinen Sie?“, erkundigte sich Granfell beiläufig, während er sich zu voller Länge aufrichtete. Er lächelte humorlos.
„Genau.“ Belfontaine nahm seinen Allwettermantel vom Haken neben der Tür. Sie gingen zusammen den Flur entlang und fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss hinab, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Dann traten sie hinaus in eine kühle Nacht, der Himmel war wie üblich bewölkt und der Wind frisch.
Schweigend überquerten sie das Rollfeld, bis sie so weit entfernt von sämtlichen Gebäuden waren, dass sie sich einigermaßen sicher vor etwaigen Abhörgeräten fühlen konnten.
„Dann ist Regis Hastur also tot. Und ich habe ihn nie kennen gelernt.“ „Ja. Und falls die Föderation uns hier zurückgelassen hat, müssen wir zusehen, wo wir bleiben. Vancof behauptet, Regis’ Erbe ist Mikhail Hastur, und über den wissen wir noch weniger als über Regis. Allerdings konnte ich in Erfahrung bringen, dass sie den Leichnam an einen Ort in der Nähe des Sees von Hali bringen, zu einer religiösen Stätte.“ „Wer ist sie?“ „Sie alle, der gesamte Rat der Comyn, wenn ich recht verstanden habe, mitsamt ihren Frauen und Kindern und wer weiß wie vielen Leuten noch.“ „Sie meinen, dann wird die Burg also …?“ „Ich weiß nicht, ob sie leer sein wird, aber sie dürfte vergleichsweise leicht zu nehmen sein. Aber das ist nur ein Gebäude. Die wahre Macht hier liegt in den Domänen.“ Nachdem er diese offenkundige Tatsache ausgesprochen hatte, hielt Miles inne, als fiele es ihm
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