Der Sohn des Verräters - 21
Jahrzehnten in den beheizten Gebäuden der Föderation hatte er das Gefühl, erfrieren zu müssen. Der Atem der Tiere war kaum in der Luft sichtbar, und Herm sagte sich, er würde sich gewiss schnell wieder an alles gewöhnen.
Er schaute sich um. Es gab zwei Wiesen, auf jeder Straßenseite eine. In einer Wiese entdeckte er die grell bemalten Wagen des Fahrenden Volks, in der anderen ein paar Essenverkäufer und Maultiertreiber. Mehrere Feuerstellen loderten, und Herm sah eine Reihe Gestalten um sie herumstehen. Die ganze Szene strahlte eine gewisse Ruhe aus. An einem Feuer erzählte jemand einem faszinierten Publikum eine Geschichte, man hörte eine tiefe Stimme durch die Stille schallen.
Schließlich erspähte Herm eine kleine Gestalt, die mit Mantel und hochgezogener Kapuze an einem Feuer hockte. Gegenüber saßen ein paar alte Männer auf Steinen, die seit ewigen Zeiten dort lagen, und stritten über irgendeine Kleinigkeit. Sie achteten nicht auf die Gestalt. Herm stieg ab und führte die Pferde zu der Feuerstelle.
„Hallo, Neffe, begann er leise. „Wie ich sehe, warst du vor mir da. Ich wurde in der Stadt noch aufgehalten.“ Be im Klang seiner Stimme bewegte sich der Kopf unter der Kapuze, hielt inne und blickte dann auf. „Ich dachte schon, du hättest mich vergessen, Onkel Herm.“ „Das würde ich niemals tun. Ich hoffe, du hast dich beim Warten nicht gelangweilt.“ „Nein, gar nicht. Ich habe mir die Vorstellungen angeschaut und etwas gegessen.“ Herm! Mit dir habe ich nicht gerechnet!
Ich weiß. Und jetzt werden wir so tun, als seien wir ganz normale Leute, die auf dem Weg zu einer Hochzeit in den Bergen sind.
Wir? Heißt das, du schickst mich nicht zurück?
Jedenfalls nicht sofort, Domenic. Ich habe deinem Vater versprochen, für deine Sicherheit zu sorgen – er war nicht besonders erfreut über dein Handeln. So, ich möchte, dass du dich Tomas nennst, und ich werde Ian MacAnndra sein. In diesem Augenblick ging Herm durch den Kopf, dass er vorhin bei der Diskussion im Arbeitszimmer etwas übersehen hatte:
Wieso wollten Danilo und Lew, dass Domenic Burg Comyn fernblieb? Schließlich kam er zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich gute Gründe dafür hatten, und hörte auf, sich Gedanken darüber zu machen.
Ich verstehe. Eine gute Wahl – oben in den Bergen gibt es Hunderte von MacAnndras. Ich habe die Wagen im Auge behalten, während ich wartete, und bisher hat sich nichts getan.
Was machen wir jetzt?
Wir bleiben bis zum Morgen hier – ich habe einen Schlafsack für dich dabei – und dann entscheiden wir über unseren nächsten Schritt. Erzähl mir alles, was du bis jetzt in Erfahrung gebracht hast, Domenic.
Tomas! Nicht Domenic. Sonst vergisst du es noch und sagst den falschen Namen, Onkel Ian!
Holla, der Junge begriff aber schnell! Herm setzte sich neben ihn und streckte die Hände zum Feuer. Dann lauschte er aufmerksam der Stimme in seinem Kopf. Die Geschichte entwickelte sich logisch, sie begann damit, wie der Wagen des Fahrenden Volks am Morgen an der Burg vorbeigekommen war, und endete mit dem Gespräch, das der Junge später belauscht hatte. Domenic schien ein gutes Gedächtnis und einen Blick für Einzelheiten zu besitzen. Im Laufe der Erzählung spürte Herm, wie sich sein Neffe zu beruhigen begann und die Sache sogar ein wenig genoss. Er stellte einige Fragen und erfuhr, dass Domenic zwar keines der Gesichter gesehen hatte, aber dennoch glaubte, die Männer wieder erkennen zu können.
Schließlich erhoben sie sich gleichzeitig, holten die Schlafsäcke von den Pferden und breiteten sie neben dem Feuer aus.
Herm stellte fest, dass er sehr müde war und dass seine Beine vom Reiten schmerzten, zugleich war er aber auch erregt. Die angenehmen Gerüche von Holzfeuer und Pferd, die kalte Luft und die frische Brise, das alles wirkte belebend auf ihn. Er achtete nicht auf die Steine unter seinem Bettzeug und dachte an Katherine und die Kinder. Der Mut begann ihm zu sinken, aber bevor er in neuerliche Verzweiflung stürzen konnte, hörte er den Jungen wieder. Ich glaube, drüben beim Fahrenden Volk tut sich etwas.
Was?
Es gibt eine Art Streit zwischen diesem Vancof und einem anderen Kutscher. Sie scheinen beide ein bisschen betrunken zu sein, und ihre Gedanken sind nicht sehr klar. Aber es sieht ganz danach aus, als würde Vancof absichtlich Streit suchen.
In seinen Gedanken ist ein Unterton – er hat Angst. Nein, er ist betrunken und innerlich zerrissen. Er will weg von hier, aber er denkt
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