Der Sohn des Verräters - 21
es abgestoßen und ein bisschen schmutzig. In dem Stiefel steckte ein Bein, und als Domenic besser sehen konnte, erkannte er, dass er auf die Leiche des namenlosen Mannes blickte. Er regte sich kein bisschen, auch die Brust hob und senkte sich nicht. Der Junge schluckte mehrere Male heftig, dann schloss er die Hände um den Stiefel. Er stand auf und versuchte die Leiche unter Einsatz seines Körpergewichts unter der Bank hervorzuziehen. Der Mann war schwer, aber schließlich glitt er über das unebene Pflaster des Hofes. Domenic hörte Schritte hinter sich, und einen Augenblick später war Abel MacEwan neben ihm, stieß ihn entschlossen beiseite und nahm die Last des leblosen Körpers in seine größeren und wuchtigeren Hände.
Der Rumpf des Toten war seitlich gelagert gewesen, aber nun rollte er auf den Rücken, und Domenic sah das Heft eines Messers aus der Brust ragen. Um die Wunde herum hatte sich ein Fleck ausgebreitet, der sich dunkel von dem braunen Stoff des Übergewandes abhob. Jemand brachte eine Fackel, und Domenic starrte in das Gesicht des Fremden.
Seine Augen waren geöffnet und auch der Mund stand leicht offen. Der Mann wirkte noch im Tod überrascht. Domenic konnte den Blick nicht abwenden, bis schließlich Abel und ein zweiter Gardesoldat den Leichnam an Armen und Beinen hochhoben und ihn wegzutragen begannen.
Überrascht war nicht das richtige Wort – verraten. Während er vor Entsetzen noch leicht schwankte, machte sich Domenic bewusst, dass niemand aus der kleinen Stadt den Mann getötet hatte. Es musste Vancof gewesen sein – warum er das getan hatte, war allerdings ein Rätsel. Dann fiel ihm ein, dass er am Morgen gesehen hatte, wie der Tote dem Kutscher etwas gegeben hatte. Er schloss die Augen und versuchte sich jede Einzelheit ins Gedächtnis zu rufen. Es war ein zusammengefaltetes Stück Papier gewesen und noch ein weiterer, viereckiger Gegenstand.
Nun, da die Feuer gelöscht waren, ließ die Abendkühle Domenic frösteln. Doch trotz dieser Unannehmlichkeit rührte er sich nicht vom Fleck, er war wie erstarrt vor Trauer und Entsetzen. Er versuchte sich gewaltsam an alles zu erinnern, was er von Vancofs Gedanken mitgehört hatte. Das meiste war ein sinnloses Durcheinander gewesen, aber einige Ausdrücke schienen von Bedeutung zu sein. Das Wort Befehle tauchte ständig auf, und diese hatten dem Kutscher nicht gefallen, er hatte sich gefürchtet. Was hatte man ihm befohlen – seinen Verbündeten zu töten? Aber das war doch Wahnsinn! Dennoch, es schien keine andere Erklärung zu geben, und Domenic zwang seinen Verstand, sie zu akzeptieren.
Mittlerweile bebte der Junge beinahe vor Kälte und innerem Aufruhr, und er schleppte sich ins Gasthaus zurück. Die Wärme, die ihm nach den ersten Schritten entgegenschlug, kam ihm beinahe fiebrig vor. Er wischte sich rau mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann sank er, zu müde, um weiterzugehen, auf eine Bank nahe des Eingangs.
Er spürte, wie seine Selbstbeherrschung in einer Flut fremdartiger Empfindungen dahinschwand. Er hätte gern geweint, aber es kamen keine Tränen. Er hatte das Gefühl, zu Stein geworden zu sein, und sehnte sich nach Erlösung.
Es hatte Tote gegeben, unschuldige Menschen wie Illonas Tante Loret, die er nur für die Dauer weniger Minuten gekannt hatte. Der Terraner, dessen Namen er nie erfahren hatte, war ebenfalls tot. Er hatte die anderen nicht gesehen, aber er hatte den unbekannten Terraner gesehen, und er wusste in seinem tiefsten Innern, dass dieser den Tod nicht verdient hatte.
Die tiefe Trauer um Regis Hastur, die er seit Tagen unterdrückt hatte, stieg nun wieder in ihm auf. Er erinnerte sich an einzelne Erlebnisse, angenehme Momente, in denen sein Großonkel gelöster Stimmung gewesen war. Dann hatte er zu Großvater Lews sichtlichem Unbehagen Geschichten von der Sharra-Rebellion erzählt, und irgendwie ließ er die Ereignisse weniger schmerzlich erscheinen, als sie gewesen sein mussten. Domenic dachte an Regis’ Charme und Witz, an die Art und Weise, wie er seine Mahlzeiten aß, und an viele andere Kleinigkeiten. Sein Erinnern schien einem so großen Mann irgendwie nicht zu genügen.
Die Brust des Jungen schmerzte, und in seinen Schläfen pochte das Blut. Eine Träne rollte ihm über die Wange, und er wischte sie mit einem zitternden Finger weg. Er war doch nur weggelaufen, weil er sich ein bisschen amüsieren wollte, und jetzt gab es Tote und Verletzte und mehr Schmerz, als er ertragen konnte. Das war kein
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