Der Sohn des Verräters - 21
nicht. Nein, da war es schon besser um den Tod des Soldaten zu trauern, anstatt so zu tun, als spielte er keine Rolle.
Domenic wusste, dass er nicht allein war mit seiner Verwirrung, denn alle Leute um ihn herum empfanden ähnlich.
Am schlimmsten war es bei seinem Vater, der sich mit derart hemmungslosen Schuldgefühlen quälte, dass der junge Mann jedes Mal zusammenzuckte, wenn er Mikhails Gedanken streifte. Er selbst hatte einen Mann getötet, sein Vater hingegen Dutzende. Wie viel schrecklicher musste das alles für ihn sein!
Es hatte ihm gut getan, zu schlafen, wenn auch in einem breiten Bett zusammengepfercht mit Dani, Danilo, Dom Gabriel und Onkel Rafael. Illona war mit Rafaella gegangen, um bei den Entsagenden in deren Zelten zu schlafen, und Domenic nahm an, dass sie froh war, im Freien zu sein und nicht in dem überfüllten Gasthaus. Zum Glück hatte er nicht von dem toten Soldaten geträumt, oder wenn er es getan hatte, dann konnte er sich nicht erinnern.
Aber Domenic fühlte sich kaum erfrischt, als er nun neben seiner Mutter ritt, auf einem besseren Pferd, als ihm Herm zu Beginn ihres traurigen Abenteuers gebracht hatte. Er vermisste seinen neuen Onkel bereits, der zusammen mit den übrigen Verwundeten, den gefangenen Technikern und den überlebenden Soldaten nach Thendara zurückgekehrt war. Domenic war immer noch aufgewühlt, und auch wenn sich seine Stimmung seit dem Abend zuvor ein wenig gebessert hatte, fühlte er die innere Düsternis weiter in den Winkeln seiner Seele lauem, jederzeit bereit, wieder zum Vorschein zu kommen. Es würde sehr viel mehr brauchen als Essen, Schlaf und trockene Kleidung, um die Auswirkungen eines Messerstichs in lebendiges Fleisch zu mildern.
Die Straße bog nun in westliche Richtung ab, und neben ihr standen große Baumgruppen, Harthölzer und Koniferen. Domenic atmete den Duft des Waldes ein und horchte nach dem Gesang der Vögel und dem Rascheln kleiner Tiere. Doch stattdessen hörte er nur das raue Geräusch des Atems in seinen Lungen und das kaum wahrnehmbare Ächzen der Welt. Nur zu gern wäre er von seinem Pferd gestiegen, hätte die Füße auf den Boden gestellt und sich bei dem unglaublichen Murmeln des Planeten in eine Trance fallen lassen, um alles zu vergessen, was ihm seit seinem verstohlenen Abschied aus der Burg widerfahren war.
Ein Teil von ihm war froh, dass er das Komplott gegen seinen Vater entdeckt hatte, aber ein anderer Teil wünschte aufrichtig, er wäre seiner Rolle als gehorsamer Sohn treu und zu Hause geblieben. Domenic wusste, er hatte alles richtig gemacht. Er hatte in einer kniffligen Situation kühlen Kopf bewahrt, das Leben seines Vaters gerettet, und er war nun ein Mann. Dennoch war ihm erbärmlich zu Mute, und das nicht nur, weil er einen Menschen getötet hatte. Am Abend zuvor hatte er angenommen, es ginge ihm nur deswegen so schlecht, aber als er nun die Bäume am Straßenrand betrachtete, wurde ihm klar, dass ihn sehr viel mehr quälte als der Mord.
Aber was? Ein hartnäckiger Gedanke versuchte sich aus den Tiefen seines Bewusstseins nach oben zu arbeiten, und nach einer Weile erkannte Domenic, dass er sich große Mühe gab, ihm aus dem Weg zu gehen – dass er ihn mit aller Kraft, die er aufbrachte, niederhielt. Welcher Gedanke konnte ihm solche Seelenqual verursachen?
Dann plötzlich, als hätte er allein dadurch kapituliert, dass er sich die Frage stellte, dämmerte ihm die Erkenntnis: Er sträubte sich gegen das Leben, das vor ihm lag – die Rückkehr nach Thendara, eine Existenz auf Burg Comyn und die Bereitschaft, jahrzehntelang zu warten, bis er die Position seines Vaters einnehmen würde. So innig er seine Eltern liebte, die Vorstellung, eine scheinbare Ewigkeit lang jeden Tag mit ihnen zu verbringen, war unerträglich. Aber er musste seine Pflichten erfüllen, oder etwa nicht?
Es handelte sich nicht um eine plötzliche Rebellion. Er versuchte seit Monaten einen Weg aus dem Gefängnis zu finden, zu dem Burg Comyn für ihn geworden war. Seit er begonnen hatte, die Stimme der Welt zu hören, hatte er woanders sein wollen, an einem Ort, wo es sehr ruhig war, vielleicht, ohne das unablässige Gezänk des einzigen Zuhauses, das er kannte.
Aber Mikhail würde ihm sicher nie erlauben, wegzugehen. Domenics Brust schmerzte, und er merkte, dass er den Atem anhielt. Er öffnete seine Lungen und sog die frische, saubere Luft ein, beinahe keuchend. Marguerida sah ihn fragend an, sagte aber nichts. Stattdessen wartete sie wie so oft
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