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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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fassungslosem Ausdruck nachstarre. Dann sehe ich mich gespielt hilfesuchend um. Als ich niemanden mitfühlend zu mir herüberblicken sehe, drehe ich mich mit klopfendem Herzen um, so dass ich in Richtung Spaarndam schauen kann – wo ich den Polder weiß und das sanfte Frühlingsgrün der Apfelplantagen, die ich als Kind besucht habe. (Nicht, dass ich von hier aus etwas davon sehen könnte.)
    Als ich kurz danach doch noch einen Blick auf das Wasser des Kanals werfe, ist nichts anderes mehr zu sehen als Schaum auf einem kalten, schwarzen, besitzergreifenden Gewässer.
    Es ist hier fünfzehn Meter tief. Ein würdiges Seemannsgrab für die Waffe, die mein Vater so lange versteckt hielt. Mir kommt die Assoziation mit einer Urne – als hätte ich seine Asche ausgestreut, denke ich. Auch etwas, was hier nicht so ohne weiteres erlaubt ist.
    Ist das jetzt das Ende des Krieges?
    Ich fahre mit derselben Fähre zurück.
    Dann rufe ich zu Hause an, damit sie wissen, wo ich bin.
    Schon als die Fähre wieder ablegt, sehe ich sie alle drei drüben am Kai stehen: Mitch, Tess und Jacob. Wir winken einander die ganze Überfahrt zu, Hände wie Fähnchen im Wind.
    Mitch sieht inzwischen etwas ruhiger aus, seine Augen sind weniger geweitet, die Pupillen nicht mehr so groß. Er ist verändert, still. In seinem Kopf scheint sich viel abzuspielen. Jacob ist besser auf den Beinen, aber sichtlich erschöpft. Doch die Kraft, mich fest in die Arme zu schließen und zu küssen, die hat er noch. Mit Worten gehen wir in letzter Zeit eher sparsam um.
    Zu viert gehen wir zum Parkplatz, wo das Auto steht.
    »Bist du Mama?«, fragt Tess, die wie früher den Clown spielt.
    Sie hat vom Wind gerötete Wangen.
    »Nein, ich fand dich im Haberstroh, unter drei Gänsen, da war ich froh!«, singe ich. »Drei gaaaanz dicken Gänsen im Haberstroh…«
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    Ob wir uns in unseren Alpträumen noch Jahre danach unter Gewissensbissen gekrümmt haben – darüber werde ich mich nicht näher äußern. Das gehört nicht in diese Geschichte. Aber von den Gewissensbissen abgesehen, hätte diese Geschichte leicht (das heißt ohne allzu große seelische Nöte) auf natürliche Weise mit unserer Emigration auf einen anderen Kontinent enden können. Die ließ sich letztlich doch nicht vermeiden. Damit wir Mitch besuchen und bei uns empfangen konnten, wenn er frei hatte. Und weil es keiner von uns geschafft hätte, durch das Haus, in dem sich alles abgespielt hatte, Tag für Tag an alles erinnert zu werden.
    In den Niederlanden wurden uns keine Steine in den Weg gelegt – das war eine angenehme Überraschung. Man verschärfte lediglich die Suche nach dem dritten Mann. Dass dieser dritte Mann Raaijmakers’ Mörder war, stand für die Polizei eigentlich felsenfest.
    Eine Sache, die mich nachts verfolgt hat, will ich aber schon erwähnen: meinen Besuch damals bei Geert van Drongen. Er war schließlich der Einzige außerhalb meiner Familie, der von meinem Interesse für Raaijmakers wusste. Ich schickte ihm, was ich im Nachhinein ziemlich kaltblütig von mir finde, einfach eine E-Mail, in der ich mit sorgsam gewählten Worten meinem Erschrecken über die launischen Wege des Schicksals Ausdruck verlieh. Schamlos erkundigte ich mich, ob er genauso bestürzt darüber sei wie ich. Er antwortete, dass er, obwohl er noch gar nichts über Tons Tod gelesen habe, ehrlich gesagt nicht wirklich überrascht sei über dessen gewaltsames Ende.
    Ich fand, dass ich es damit bewenden lassen konnte.
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    Noch eines möchte ich mir von der Seele schreiben. Obwohl Jacob bemüht war, die Verantwortung für alles, was passiert ist, ganz auf sich zu nehmen, konnte ich nur schwer das Gefühl abschütteln, dass wir unseren Sohn in die Bresche hatten springen lassen, weil wir selbst nicht fähig waren zu handeln – obwohl Mitch sich ganz ungerührt gab und absolut keine Reue empfinden wollte. Absolut gar nichts empfinden wollte, dachte ich manchmal.
    Ich kam einfach nicht darüber hinweg, dass ausgerechnet er, der doch verkörperte, was mir am liebsten und wertvollsten war, im Geiste des genauen Gegenteils davon gehandelt hatte, des Allerschlechtesten, Kältesten, das es für mich gab: Rachedurst und Hass. Und ich hatte ihn nicht daran hindern können. Ist das Böse immer böser, als das Gute gut sein kann?, fragte ich mich immer wieder. Ich hätte meinen Sohn vor sich selbst schützen müssen, dachte ich in solchen Momenten. Oder vielleicht sogar vor mir, seiner Mutter. Ich hätte mir

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