Der Sohn (German Edition)
unser Sohn uns mit seiner Karriere solche Sorgen und solches Leid bereitete – wirklich verstehen würde ich das wohl nie. Die Gefahren, die er einging, waren so zahlreich, dass man sie kaum überblicken konnte, und für den Fall, dass er ihnen nicht gewachsen war, konnte man sich überhaupt nicht wappnen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass es noch sehr lange dauern würde, bis er in ein Kriegsgebiet entsandt wurde, und das sagte ich ihm auch.
Jacob, Tess und ich fuhren mehrmals zu der Militärbasis, wo Mitch seine weitergehende Ausbildung absolvierte – dass diese fast genauso hart war wie seinerzeit das Boot Camp, machte Mitch weniger aus als mir. Er wollte sich auf Intelligence (den Nachrichtendienst) spezialisieren, was auch für mein Empfinden eine gewisse Schönheit in sich barg.
Ich hatte mich einer Freiwilligenorganisation von Marine Mothers angeschlossen, und wir organisierten alle paar Wochen Sammlungen für all das, was die Jungs in den Kriegsgebieten brauchen konnten. Das schickten wir dann an die jeweiligen Stützpunkte. Ich hatte Freude daran, so etwas Praktisches zu tun, weil ich mich damit im Geiste auf den Realzustand vorbereiten konnte, da Mitch eines Tages selbst in so einem Gebiet stationiert sein würde.
Tess, die sich über die Mädchenschule und die Uniform, die sie dort tragen musste, anfangs nur zynisch ausgelassen und dagegen gemeutert hatte, entspannte sich zu meiner Verblüffung schon wenige Tage nach Schulbeginn. Sie vermisste zwar die Jungs und nannte die Schule total verschnarcht, aber insgeheim tat ihr die gegenwärtige Abwesenheit von Testosteron wohl ganz gut. Entgegen ihrer Erwartung habe der Umstand, dass alle im gleichen blauen Faltenrock mit grauen Kniestrümpfen durchs Leben müssten, etwas Beruhigendes, erklärte sie selbst. Sie hatte immer seltener Alpträume.
Darauf war ich schon stolz: dass es uns gelungen war, das Böse in unserem Leben so weit einzudampfen, dass es uns nicht mehr belästigte. Sogar meine Mutter war glücklich, dass Ruhe und Harmonie in unserer Familie wiederhergestellt waren – trotz des geographischen Abstands, den wir offenbar dafür gebraucht hatten. Ich hatte ihr nicht alle Einzelheiten erzählt. Manches sollte für immer ungesagt bleiben, das hatte ich mit Jacob beschlossen. Und mit Mitch natürlich.
151
Auf dem Polizeirevier sollen wir sofort zu Koornstras Büro durchgehen. Er hat gerade eine Unterredung mit einigen seiner Beamten, winkt uns aber, als er uns sieht.
Er sieht angespannt aus, hat etwas Gewichtiges im Blick, das vorher nie da war, und obwohl er dauernd am Telefon verlangt wird, geht er mit uns gleich in einen anderen Raum. Vor Angst habe ich Mühe, ihn anzusehen, und mein Herz schlägt so laut, dass ich fürchte, er könnte es hören.
Ich tue mein Bestes, mich als die passive, ängstliche Betroffene zu geben, genau wie Jacob, glaube ich. Jacob geht gebeugter als gestern und drückt die Hand auf den Bauch, wo die Schusswunde ist. Das hat er bisher nie gemacht. Gestern ging es ihm viel besser.
Koornstra scheint kein Auge für meine Ängste und meine Geheimnisse zu haben. Und falls doch, ist er ein guter Schauspieler, der geschickt kaschieren kann, was er wahrnimmt und was nicht.
Jacob kann sich kaum auf den Beinen halten. Das sieht Koornstra schon – er ruft sofort nach einem Stuhl. Wir stehen in einem geschlossenen Raum mit einem Tisch in der Mitte, auf dem unter einem Tuch die Umrisse von allerlei Gegenständen zu erkennen sind.
Im Beisein von zwei anderen Beamten bekommen wir zu hören, dass die Polizei gegen sieben Uhr an diesem Morgen von einem Mann alarmiert worden sei, der unter einer Haustür in seiner Straße Blut habe hervorsickern sehen. Ruhig Blut, denke ich automatisch. Aber mir gehen die verrücktesten Bilder durch den Kopf.
Sind das Erinnerungen oder Wahnbilder? Es war so dunkel.
Und dann wird mir das Unglaubliche, das ich schon weiß, noch einmal bestätigt.
Vor Ort habe sich herausgestellt, dass das Blut vom Leichnam eines gewissen Anton R. stammte.
Anton Raaijmakers. Tot. Mausetot. Zwei Schüsse ins Herz.
In der Wohnung hätten sich dann lauter Sachen gefunden, bei denen es sich, unserer Beschreibung nach, um unser gestohlenes Eigentum handeln dürfte. Ein Kollege Koornstras zieht das Tuch vom Tisch, mit einer Geste, als enthülle er ein Kunstwerk.
Langsam trete ich näher. Unsere Besitztümer sehen fremd und verwaist aus. Es ist ein großes Durcheinander. Ich suche nach meinem
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