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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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sein.
Alles Liebe und tausend Küsse
und immer schön vorsichtig sein, ja?
Mitch
P.S. Noch was Blödes: Könntet Ihr mir Lakritze schicken?
    36
     
    Ich wollte den Brief irgendwohin pfeffern, aber ein Brief lässt sich nicht mit Wucht werfen. Er flatterte kläglich und verloren zu Boden, und ich erschrak und fing ihn schnell auf, als könnte ich meinen Sohn damit gerade noch rechtzeitig vor einem Panzer wegziehen. Mitch, der dort drüben in Kalifornien voller Erwartungen und »männlicher«, sprich: hysterischer, Allmachtsgefühle herumlief, berauscht von seinem Mut und seiner Hoffnung, vibrierend vor Aufregung über seinen überlebensgroßen Schritt in den Schlamm der »echten« Welt. Einer Welt, die er aus Filmen kannte, aus Videospielen, von seiner Xbox und seiner PlayStation. Und aus YouTube natürlich.
    Von Jacob abgewandt, drückte ich den Brief an mich, wärmte ihn an meinem Herzen, meinem Mund. Als ich schließlich aufschaute – der Furor, mit dem ich meinen Sohn zu retten gedachte, hatte meine Tränen schon verdunsten lassen –, saß Jacob doch tatsächlich am Computer und sah sich die Site der US - Army an.
    »Guck mal, Saar«, sagte er. »Das ist der Wahnsinn! Großartig, findest du nicht? Sagenhaft!«
    Voller Ablehnung sah ich mir mit ihm die Propagandafilmchen an.
    »Wie kommt es, dass du so ruhig bist?«, fragte ich. Und da erst dämmerte mir etwas.
    »Wann ist der Brief eigentlich gekommen?«, fragte ich.
    Jacob spähte mit einem solchen Interesse weiter auf den Bildschirm, dass es nur ein Ausweichmanöver sein konnte.
    »Jacob!«
    »Ich weiß es seit etwa zwölf Tagen, Saar.«
    Es verschlug mir die Sprache.
    »Ich konnte dich noch nicht damit belasten, Saar, das weißt du. Ich habe Mitch natürlich sofort angerufen. Und…«
    Jacobs Blick war nach wie vor warm und liebevoll. Er hat große, dunkle Augen. In seine Augen habe ich mich als Erstes verliebt. Augen, die ihn verletzlich machen und zugleich überlegen, weil sie so schön sind, so orientalisch. Ich hatte das schon fast vergessen, weil er sie meistens hinter einer dunklen Brille versteckte. Sie blickten jetzt liebevoller, als ich es seit langem gesehen hatte. So, dass man sofort heulen könnte. Meistens war er mit seinen Gedanken woanders. Im Stress. Oder irritiert. Jetzt war er aufmerksam und lieb, so lieb. Er hatte ja so viel Mitgefühl mit mir.
    Ich hätte ihn am liebsten geschlagen, geboxt, ihm weh getan, richtig weh getan. Mir war auch nach Schreien zumute, mit weit aufgerissenem Mund.
    »Soll ich dir noch einen Kaffee machen?«
    »Nein!«, schrie ich. »Lass das! Was hast du ihm gesagt? Was hast du unserem Sohn gesagt?«
    Aber ich wusste es schon. Seine debile Liebenswürdigkeit verriet es mir. Dieses zuckersüße, mitfühlende Lächeln.
    Ich hasste ihn. Er hatte meinen Sohn nicht auf andere Gedanken gebracht. Es fragte sich, ob er es überhaupt versucht hatte.
    »Ich habe gesagt, dass das seine Entscheidung ist. Dass ich mich das niemals getraut hätte. Dass ich… dass es mir schwerfällt, ihn gehen zu lassen. Dass ich ihn liebhabe.«
    »Du hättest es ihm verbieten müssen! Das hättest du tun müssen! Du bist sein Vater! Er darf das nicht! Wir erlauben es ihm nicht. Das hättest du sagen müssen!«
    Ich wollte aufstampfen, aber da machte mein Fußgelenk nicht mit. Ein flammender Stich verwies mich in meine Schranken.
    »Es tut mir leid, Saar, aber ich hatte den Eindruck, dass diese Nachricht zu viel für dich gewesen wäre«, sagte Jacob. Sein Ton hatte sich verändert.
    »Was?«
    »Vor zwölf Tagen, das war an dem Tag, als du den Unfall hattest…«
    »Unfall? Was für ein Unfall?«
    »Dann eben Überfall.«
    »Oh, der Überfall!«, äffte ich ihn nach. »Wie kommst du dazu, von einem ›Unfall‹ zu sprechen? Einem Unfall! Tja, so ein Pech, dass mich irgendein dahergelaufener Faschist beinahe umgebracht hätte. Ein dummer Unfall, wirklich.«
    »Entschuldige, Saar, ich meinte…«
    Jacob entschuldigte sich nur selten. Darin war er wirklich schlecht. Und weil er sich so ungut fühlte, wenn er sich mal entschuldigte, war er dann am Ende meistens sauer auf mich.
    Mir riss der Geduldsfaden.
    »Du weißt davon, dass unser Sohn Teil einer faschistoiden, total undurchsichtigen, monströsen Maschinerie werden will, dass er damit Gefahr läuft, in die Luft gesprengt zu werden, dass wir ihn in den kommenden Jahren kaum noch zu Gesicht bekommen, und du erzählst mir das nicht sofort? Mir, seiner Mutter? Deiner Frau? Nur weil du Angst hast

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